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Marc Degens
für satt.org

Der Tod kennt eine Wiederkehr
Kein Goetz, ein Götze:
Dietmar Daths

"Cordula killt Dich!"

Es gilt fast als Allgemeinplatz in der germanistischen Forschung, daß insbesondere die deutschsprachige Literatur im Ausklang dieses Jahrhunderts wenig Überragendes zustande gebracht hat. Ein Vergleich mit dem Fin de siècle des letzten Jahrhunderts ist da sehr aufschlußreich; denn auch dort gab es kaum bedeutende (deutschsprachige) literarische Leistungen, wenn man einmal von der Dramatik und dem Aufkommen des Naturalismus absieht. Doch speziell die Prosa führte in dieser Zeit eine fruchtlose Mauerblümchenexistenz; die ersten wirklich bedeutenden Romane und Erzählungen wurden erst sehr viel später geschrieben. 1912 erschien Carl Einsteins phänomenaler Roman "Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders", den er zwischen 1906 und 1909 verfaßt hatte, 1915 Robert Müllers expressionistischer Roman "Tropen", der zu einem der herausragendsten und leider am wenigsten beachteten Werke dieses Jahrhunderts zählt, und 1906 debütierte Robert Musil mit dem Entwicklungsroman "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß", der schon stark auf sein opus magnum "Der Mann ohne Eigenschaften" verweist. Aber in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts sucht man wegweisende Romane vergeblich, die einzigen erwähnenswerten Veröffentlichungen sind die Alterswerke von Fontane, Meyer, Raabe und Keller, die aber allesamt einer vergangenen Zeit angehörten und dem Metier keine neuen Impulse lieferten. Nicht anders ergeht es uns heute. Zwar sind die letzten Veröffentlichungen der Walsers, Handkes, Grass' und Rühmkorfs allesamt nicht so schlecht, wie sie oft in der (und besonders in der alternativen) Presse besprochen werden, doch sie hätten ebensogut auch in den fünfziger und sechziger Jahren dieses Jahrhunderts entstehen können. Eine spezielle zeitgenössische Literatur der Neunziger sucht man fast vergebens. Doch glücklicherweise gibt es da einen jungen Autoren, der zu berechtigten Hoffnungen Anlaß gibt. Er debütierte letztes Jahr mit einem Buch, das meiner Ansicht nach zu den besten Veröffentlichungen dieser Dekade zählt, wenn es nicht sogar die bislang beste ist.
Dietmar Dath wurde 1970 geboren, war herausragender Autor der leider schon eingestellten Kulturzeitschrift "Heaven Sent" und arbeitet mittlerweile für "Konkret", "Spex" und "Titanic". Letztes Jahr erschien der Auftakt seiner geplanten Hexalogie "TENSOR oder die sehr anstrengende Reise in die mehr als ausreichende Verständlichkeit" im neugegründeten Verbrecher Verlag. Der „Roman der Auferstehung“ (Untertitel) hat den komplizierten Titel "Cordula killt Dich! oder Wir sind doch nicht Nemesis von jedem Pfeifenheini" und wird sicherlich manchen Leser abstoßen: leider! Denn beinahe jede auf den ersten Blick albern und unwichtig erscheinende Stelle erweist sich nach weiterer Lektüre als das genaue Gegenteil.
Der Roman erzählt die Geschichte der Komponistin Cordula Späth und beginnt mit ihrem tragischen (vermeintlichen) Freitod. Im Verlauf der Geschichte erfahren wir manches über sie, doch zur Mitte des Romans verliert sich ihre Spur und Dath schreibt nur noch über ihre (und gleichzeitig seine) Freunde. Und beinah selbstverständlich über sich, wie er etwa "zwischen 13 und 17 Jahren linksradikal auch in der Feminismusfrage gewesen war, und dann mit 18 plötzlich Amipornos kaufte". Diese Stellen sind nicht nur unterhaltsam zu lesen, sondern überdies ungemein spannend, denn ein zentrales Thema dieses Buches ist die Bedeutung und Infragestellung des politischen Bewußtseins als Bürger und Schriftsteller. Dietmar Dath läßt uns an seinen Denkprozessen teilhaben, zeigt, wie sehr Einstellungen fremdgesteuert und willkürlich und wie manipulierbar Menschen sind. Gerade aber durch diese ständigen Zweifel liefert er in Wirklichkeit ein Buch ab, das im hohen Maße politisch ist. Es wird dadurch ernst, daß es sich nicht allzu ernst nimmt und keine Dogmen, aber dafür Zweifel zuläßt. Damit hat Dath nicht nur ein ehrliches Werk geschaffen, sondern auch ein gesellschaftlich wichtiges, da es (um einen abgedroschenen Begriff zu gebrauchen) aufklärerisch arbeitet.
Der Roman ist gerade deshalb so außergewöhnlich, weil er von einem 25jährigen stammt und genau diese wahrscheinlich letzte entscheidende Lebensphase in Hinblick auf Beruf und Familie thematisiert. Kein 30- oder 40jähriger, also niemand in dem Alter, in der die Mehrzahl der Autoren ja zum ersten Mal an ein größeres Publikum tritt, ist wohl in der Lage, diesen Lebensabschnitt so authentisch, wie es Dietmar Dath vermag, wiederzugeben, denn fast immer werden im Laufe der Zeit aus Meinungen Anschauungen, aus Urteilen Vorurteile und aus Neugier Desinteresse. Diesen Zustand nennt man dann Reife. Diese Reife muß man Dietmar Dath aber absprechen, und dies ist sein entscheidener Vorteil gegenüber vielen älteren Autoren. Besonders amüsant und aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang das siebte Kapitel, in dem Dath seine komplexhafte Bewunderung für Rainald Goetz thematisiert: Die Auseinandersetzung endet vorerst mit einer heiklen peinlichen Zusammenkunft.
Ich habe mich oftmals bei der Lektüre gefragt, ob sich Dath der ganzen Tragweite seiner scheinbar spielerisch aus dem Ärmel geschüttelten Sätze bewußt ist. Ich möchte nur ein Beispiel dafür anführen: Dath schreibt, daß Adorno der einzige Philosoph sei, "den man auf die Melodie von,Azurro' singen kann:,Aaadorno, lalalalalala'". Ein Kollege von Dath, Thomas Mann, hat Adorno ebenfalls eine Harmonie zugeteilt und zwar den wichtigen Wagnerischen Dreiklang c g g in dem zentralen Kapitel zum Ende der Moderne in Manns "Doktor Faustus". Doch es ist eigentlich egal, ob Dath diese nebenbei zuhauf auftretenden Geniestreiche bewußt oder unbewußt niedergeschrieben hat, denn entscheidend bleibt allein, daß sie da sind.
Daths große Stärke liegt in der Realitätsverschiebung. Was wie eine ehrliche Lebensbeichte beginnt, wird am Ende auf den Kopf gestellt und - schwupps! - ist Cordula Späth wieder da. Kein Werk seit "Die Masken der Illuminaten" von Robert Anton Wilson hat mich so aufs Glatteis geführt wie dieses Buch. Man kann sich nur wünschen, daß Dath seine Hexalogie wie geplant fortführt und im Jahre 2010 mit dem letzten Band beendet und auflöst. Ich freue mich darauf und warte ab!

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(Erstmals veröffentlicht in: My Way 37, April 1996)

Dietmar Dath: "Cordula killt Dich! oder Wir sind doch nicht Nemesis von jedem Pfeifenheini". Roman der Auferstehung. Verbrecher Verlag, Berlin 1995. 175 S., 28,00 DM

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