Schamlos und
charmant: Autobigophonie von Françoise Cactus
Nein, eine ganz normale Schriftstellerin ist Françoise
Cactus sicherlich nicht, denn die Mehrzahl der schreibenden Zunft
findet in ihren Augen und Worten "das menschliche Dasein sehr
langweilig" und geht lieber - unter irgendeinem billigen Vorwand,
etwa den, dort duschen zu wollen - "jeden Abend in die
Intensivstation des nächsten Krankenhauses, ( …) um sich
dort an fremden Leid zu ergötzen". Nein, mit diesen Autoren,
die nicht schreiben, sondern hauptsächlich Eindrücke
sammeln, hat Françoise Cactus wirklich nichts gemein.
Trotzdem oder gerade deshalb verlegte der Martin Schmitz Verlag im
Herbst 1996 in einem bibliophilen Band ihren annähernd 350
Seiten starken (vorläufigen) Lebensbericht unter dem
rätselhaften Titel "Autobigophonie". Und daß dieses
Buch ungemein fesselnd und kurzweilig zu lesen ist, resultiert
maßgeblich aus dem Umstand, daß Françoise
Cactus das Dasein nicht nur als sehr reizvoll, sondern zudem auch
als ausgesprochen lebenswert empfindet.Bei einer Autobiographie
interessiert uns als erstes zumeist der Verfasser.
Françoise Cactus' Herkunft ist zweifelhaft und nachrangig:
Sie ist eine Frau irgendwo zwischen 25 und 50 Jahren, stammt
wahrscheinlich aus Frankreich und lebt in Berlin. Doch bekannt und
präsent ist sie uns als die ehemalige schlagzeugende
Sängerin der Lolitas und mittlerweile als die glamouröse
Frontfrau von Stereo Total, deren aktuelle CD "Monokini" sogar
,WOM Act des Monats' Februar wurde. Wer jemals einem Auftritt von
Françoise Cactus beiwohnen durfte, wird sich sicherlich
fragen, wie ihr radebrechendes Deutsch in Schrift gebannt und in
Buchhüllen gepreßt wohl klingen mag. Und das war
für mich das Erstaunliche: während sie als Musikerin
gerade einmal fehlerfrei bis Vier zählen kann, so ist ihre
Schriftsprache von einer wohltuend schlichten Eleganz, die man
bedauerlicherweise sogar bei den Kollegen der schreibenden Zunft
(s.o.) nur äußerst selten antrifft. Und zudem
verfügt sie über einen schier unendlichen Bilder- und
Metaphernschatz, von dem es die meisten Ausdrücke verdienen,
in die Alltagssprache übernommen zu werden, etwa "die
Lehrerin marschierte über den Schulhof wie eine Armee" oder
"ihr Mund war so klein wie ein Hühnerpopo". Überdies ist
ihr Buch vollgespickt mit zahllosen kleinen Weisheiten, - z. B.
"die Macht des Friseurs ist unermeßlich" - die einfach nur
rein und wahrhaftig wie das Jungfernhäutchen Marias
scheinen.Damit hat sie sich der Pflicht bravourös entledigt -
aber die Kür ist unermeßlich prachtvoller. Ich kenne
eigentlich nur ein Buch, das ebenso wahnwitzig unterhaltsam wie
diese "Autobigophonie" ist. Der Verfasser stammt aus dem gleichen
Milieu wie Cactus, und beide wählten dieselbe Literaturform:
den Lebensbericht, in dem sich hinter jedem Körnchen Wahrheit
gleich ein ganzer Haufen Lügen verbirgt. Ich meine die
Autobiographie (Teil 1) "Guten Tach. Auf Wiedersehen" von Helge
Schneider. Aber da wo Schneider wild gestikulierend mit dem
Holzpfahl winkt, da wirft uns Françoise Cactus nur ein
charmantes Augenzwinkern zu. Doch entscheidend bleibt letztlich
nur eins; daß wir für die Zeit der Lektüre in ein
wahrlich fremdes und seltsames Leben eintauchen und uns dort
gemütlich einrichten.Besonders aufregend an diesem Buch ist
die Tatsache, daß einzelne der annähernd dreihundert
(!) Kapitel manchmal wie von Geisterhand auftauchen und
verschwinden, aber alles insgesamt betrachtet doch einen logischen
und komplexen Aufbau besitzt. Wenn Cactus etwa auf Seite 83 von
ihrem Oralverkehr mit Youmar erzählt, - ",Verrückt',
brüllte er, dann öffnete er seinen Hosenlatz und sagte:
,Ganz geil'. Sein kleiner, weicher Schwanz schlief.,Ich
Jungfrau', lachte er. Ich nahm das kleine Ding in den Mund und
saugte daran." - dann wurde uns auf Seite 12 bereits die
Erklärung für dieses Verhalten mitgeliefert: "Ich wollte
immer etwas im Mund haben: meinen Daumen, eingewickelt in einer
Taschentuchecke, ein altes Kaugummi, das ich in der Schule
gefunden hatte ( …) oder irgendwelche Tiere, die ich in der Erde
fand.". Na klar, ein oral-sensorischer Kernkonflikt also!In ihrer
"Autobigophonie" legt Françoise Cactus Zeugnis von einem
ihrer möglichen Leben ab, das wie die meisten mit der Geburt
begann. Ungewöhnlicherweise endet das Buch aber mit ihrem
vorweggenommenen Tod. Den Abschluß bildet ein Epitaph,
welches James Joyce schöner nicht hätte schreiben
können: "Hier liegt sie, so wie sie zu liegen pflegte. / Nur
daß sie, solange sie lebte, / Den Po dazu bewegte."
Entgegnen möchte ich ihr mit dem Motto einer anderen
Autobiographie - mit "Der Weg nach unten" von Franz Jung -:"Warum
suchst du Ruhe, wenn du zur Unruhe geboren bist?
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Françoise Cactus: Autobigophonie.
Martin Schmitz Verlag, Kassel; Berlin 1996. 344 Seiten.
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