Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen


zurück

Marc Degens
für satt.org

 

Nesch
Gebrochen Deutsch

Nicht nur der Titel des vor mir liegenden Lyrikbandes „Gebrochen Deutsch“ erinnert an einen bekannten Tonträger ("Broken English“ von Marianne Faithful), auch die darin versammelten Gedichte des 29jährigen Autors Nesch wirken wie gedruckte Songtexte. Auf die enge Verbindung seiner Texte zur Musik verweist schon der kurze literaturwissenschaftliche Hinweis, der der Textsammlung vorangestellt wurde: „Lyrik (griech. Lyra,Leier')". Hervorgehoben wird damit also der oftmals vergessene Umstand, daß Gedichte ursprünglich für den musikalisch begleiteten Vortrag gedacht waren. Mehrfach habe ich bereits betont, daß aus der Allianz Musik-Gesang herrliche Lyrik entstehen kann - viele textende Sänger sind so ausgezeichnete Literaten. Doch natürlich bedeutet dies nicht, daß jeder Liederschreiber gut schreibt. Dergestalt können zwar viele Texte in Einklang mit Musik außerordentlich wirken - gleichzeitig jedoch können sie nackt auf dem Papier und ohne jegliche Untermalung blaß und ungelenk wirken. Gute Lyrik hingegen ist Musik ohne Instrumente und Stimme - selbst wenn diese für den Gesang verfasst wurde!
Manche Zeilen von Nesch besitzen so auch einen Rhythmus, der sich bei der Lektüre auf den Leser überträgt: „Meine Zigarette/Verglimmt/Ein Fluß/Zieht an mir vorbei/Wie ein Film/Im Kino/Leben/Die Menschen nur/Wenn ihnen langweilig ist/Dabei steht doch eines fest/Daß jedes Leben/Slänglich ist". Oder: „Ich fühl mich/Wie eine Wurzel/Die sich durch den Dreck wühlt/Nur erfrischt/Hin und Widerlich/Vom Regenwasser umspült/Ansonsten/Einzig Verwestes/An sich fühlt". In solchen Momenten wird die Lektüre zum Genuß, Worte werden Musik. Leider aber überwiegen in „Gebrochen Deutsch“ Passagen, zu der man sich musikalische Untermalung wünscht, damit diese dann vom eigentlichen Text ablenken: „aber ansonsten hat sich nix verändert/mal wieder hast du gestrampelt im leben/dabei mußt du es doch besser wissen/strampel nie in einem treibsand-schicksal". Dieses Beispiel ist sprachlich unschön und inhaltlich banal. Auch das überwiegend verwendete Stilmittel, das Enjambement (der,Zeilensprung'), hält nicht immer das, was es halten soll: „Die Bevölkerung ist/schockiert/läßt ein Großindustrieller seine Abwässer/ab/er/wischen wird ihn nie/mand/eln in Tüten/Hamburger und Fritten werden von Mobilen aus an/schau/wie lustig sie um den Brand/herd/en von Leuten grasen den Ort nach Kix ab./Keiner gönnt dem anderen/was/gut ist, daß noch niemand den Nächsten so liebt wie sich/selbst. Tilt.“ Zwar findet der Titel des Gedichtbandes hier eine augenfällige Entsprechung, allerdings kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß solche Verse weder musikalisch noch sprachlich besonders, also vom Wesen her lyrisch sind.
Insofern ist mein Urteil über „Gebrochen Deutsch" zwiespältig: an manchen Stellen kann ich mir die Musik denken, an wenigen Stellen kann ich die Musik spüren, während vieler Seiten würde ich lieber Musik hören.


 

[Nesch: Gebrochen Deutsch.
Manana-Verlag, Leverkusen 1997. 104 S.]
zurück