Einladung, Peter Handke zu lesen
Mein Lieblingsschriftsteller ist Peter Handke! Fast immer, wenn
ich in Gesellschaft dieses Urteil vom Stapel lasse, ernte ich Hohn
und Spott, manchmal auch Unverständnis und Zorn, so als ob
ich gesagt hätte, daß Michael Schumacher ein
hübscher Mann sei oder, daß Adolf Hitler ein guter
Innenpolitiker war. Denn der Kärntner gilt vielen Lesern und
anderen meinungsfreudigen Menschen als Synomym für die
,Langeweile',,Ideenlosigkeit' und,Ödnis' des
deutschsprachigen Literaturbetriebs. Handke ist hierzulande ein
Schimpfwort und wird meist in einem Atemzug mit Strauß,
Grass und Böll benutzt. Die einen sagen, er ist ein
aufgeblasenes Kunstprodukt des Suhrkamp-Verlages, die anderen,
daß er nur über und für sich schreiben kann;
manche halten ihn für unmodisch, einige für neurotisch,
viele auch für tot - und tatsächlich ist so manches
davon wahr. Doch was denkt er selber über sich und sein
Schreiben: "Ich hab' halt nicht mehr den richtigen Drive. Ich bin
nicht mehr schön genug. Der Hüftschwung hat
nachgelassen."
Dies stimmt nicht, denn eigentlich hat Handke noch nie den
richtigen Drive besessen - zumindest den, um ein echter
Bestsellerautor zu werden. Daß er es in den siebziger Jahre
dennoch wurde, ist für mich, trotz der intensiven
Anstrengungen seines Verlegers, ein wahres Wunder, denn Handke
verfaßt pure, unverfälschte Literatur. In seinen Texten
regiert die Form der Sprache, selbst der Inhalt muß sich ihr
unterordnen. Handke: "Ich kenne niemand Lebenden, der so reine
Literatur macht wie ich. Alle anderen verbreiten nur Meinungen."
Ich: "Genau!" Und selbstredend ist diese Art von Texten nicht
unbedingt populär, denn die Lesermassen wollen in erster
Linie durch Handlungen und Inhalte unterhalten werden. Doch dies
werden sie bei Handke gerade nicht.
Oft fragt man mich, welches Buch ich von ihm wirklich empfehlen
kann, doch nie fällt mir eine Antwort ein, denn trotz und
gerade wegen seiner vielen literarischen Wendungen gibt es
eigentlich kein Werk, das besonders herausragend oder schlecht
ist: alle sind irgendwie Handke, egal ob nun sein Erstling "Die
Hornissen" oder eben sein allerletztes Werk. Ja, ich hatte sogar
noch nie bei der Lektüre eines Werkes von ihm den Eindruck,
daß ich gerade ein wirklich überwältigendes Buch
in Händen halte - alle meine Lieblingsbücher stammen aus
fremden Federn. Dennoch schätze ich ihn als den besten
lebenden deutschsprachigen Schriftsteller, da ich bei jeder
Handke-Lektüre den Eindruck habe, etwas wahrlich
Authentisches in Händen zu halten. Und das ist der ehrlichste
Ausdruck von Kunst, denn Kunst ist in meinen Augen die
Schönheit des Wahren.
Diese Schönheit stand und steht für Handke im
Mittelpunkt seines Schaffens. Und jedes einzelne seiner Werke
erzeugt und vermittelt dieses Wesen gleichviel. Insofern kann ich
auf die obengestellte Frage stets nur antworten, daß es zwar
kein Buch von Handke gibt, das man unbedingt - weil es so
hervorragend ist, daß man unter keinen Umständen daran
vorbeikommt - gelesen haben muß, (Handke hat halt keinen
"Zeno Cosini", "Ulysses", "Mann ohne Eigenschaften", "Tod auf
Kredit" und keine "Masken der Illuminaten" verfaßt,) aber,
daß alle seine Werke dermaßen vortrefflich sind,
daß sich ihre Lektüre jederzeit lohnt. Und, daß
sollte man einmal den Zugang zu seinen Büchern gefunden und
sich der Schönheit seiner Werke geöffnet haben, diese
einen daraufhin niemehr loslassen werden. Denn spätestens
dann ist das Lesen nicht mehr nur schön, dann wird es
plötzlich auch spannend, dann stürzen die Inhalte und
Handlungen auf einen ein. Schließlich benutzt Handke
für seine Werke stets nur Schablonen: die Schablone des
Krimis, die Schablone des Reiseberichts, die des Fernsehfilms,
Rührstückes oder die der Autobiographie. Schablonen, die
mit den Handlungen und vordergründigen Inhalten bloß
spielen - die eigentlichen, wahrhaftigen Inhalte verraten sich
jedoch erst in der Kontinuität seiner Bücher verraten
oder wie im Fall der "Chronik der laufenden Ereignisse" (1971) in
der Zeitgeschichte viele Jahre später, dort konkret im
Deutschen Herbst 77. Und so kann man Handke eigentlich nur dann
richtig genießen, falls man Buch um Buch von ihm liest -
egal in welcher Reihenfolge.
Für sein neues Buch "In einer dunklen Nacht ging ich aus
meinem stillen Haus" griff Handke auf die Schablonen der
Abenteuer- und Liebesromane zurück, auf Werke wie "Iwein" und
"Erec" von Hartmann von Aue, ebenso wie auf den "Don Quijote". Wie
dort macht sich auch hier der,Held', ein Apotheker aus dem
Salzburger Land, zu Anfang des Buches auf die Reise, auf die Suche
nach dem letzten Abenteuer und der vollkommenen Liebe. Und wie
sein Autor findet er die Wunder der Welt in den Winzigkeiten des
Lebens und der Natur: "Ein einzelner Schmetterlingsflügel
bewegte sich aufrecht, leicht schwankend und im Zickzack,
vielfarbig, standartengleich, auf den Boden dahin: so getragen von
einer höhlenschwarzen Ameise. Und die Ameisen schienen im
übrigen nirgends hier einen Staat zu bilden - höchstens
drei, vier kamen jeweils aus einem Loch, kleine
Ameisendörfer, und - weiler also nur, die weit voneinander
entfernt lagen und nichts miteinander zu tun hatten." Diese zuhauf
beschriebenen Phänomene sind vom Wesen her still; wortlose
Prozesse, die man eigentlich gar nicht in Sätze kleiden kann,
weil es an den richtigen Begriffen mangelt. Daß Handke dies
jedoch gelingt, hängt mit seiner schier unendlichen
Sprachfülle und -phantasie zusammen, die es tatsächlich
schafft, unbeschreibare Dinge in Sprache zu verwandeln. "Zugleich
unter seinen Rückwärtsschritten das Auseinanderspritzen
von Myriaden grauer Heuschrecken, ein Wegschnippgeräusch wie
beim Schneiden von Fingernägeln."
Handke hat ein Buch geschrieben, das unspektakulär und
ungeheurlich zugleich ist. Es durchbricht das Gewöhnliche,
das gewöhnliche Lesen ebenso wie das gewöhnliche Leben:
"Als er eines Tages in eine ähnliche Randsiedlung kam wie die
an der Herbergsstraße, mit gleichkleinen länglichen
Häusern die Steppenhänge hinauf, nur eben an einem
anderen Stadtausgang, pflückte er im Vorbeigehen eine Feige
von einem Strauch gleich neben einer Tür, worauf dort eine
alte Frau herauslief, mit Geschrei, aber nicht, weil er ein Dieb
war, sondern der vermeintlich giftigen Feigenart wegen,,nicht
essen!'; sie selber hatte davon ihr Leben lang noch nicht gekostet
und wollte ihn nun davor bewahren, an ihren Haustürfeigen
zugrunde zu gehen. Unter ihrem besorgten Blick aß der dann
von den Früchten, die so köstlich schmeckten, daß
er den ganzen Strauch hätte leeressen mögen, gerade nur
zwei, und von den kleinsten. Dieses Nicht-bewandert-Sein selbst
der Alteingessenen mit dem, was vor der eigenen Tür war,
mitsamt der Angst davor, begegnete ihm von morgens bis
abends."
Wie der Titel des Buches schon andeutet, behandelt das Werk eine
Lebenswelt, die jenseits unserer Erfahrungswelt angesiedelt ist.
Handke offenbart uns darin schwerelos anmutende, unfaßbare
Dinge, die auf dem ersten Blick kaum Beachtung finden, weil sie so
gewöhnlich und alltäglich scheinen, aber die durch seine
Sprache ihre mannigfaltige Faszination ausbreiten und
plötzlich offenkundig ins Gewicht fallen. Doch wenn Worte
gleichberechtigt neben der eigenen Wahrnehmung bestehen
können, wenn sie vielleicht sogar die Beobachtung
konzentrieren, dann lebt Literatur Schönheit - so wie in
diesem Fall. Und dann spielt es keine Rolle mehr, woran der Plot
festgemacht ist, was dem Protagonisten auf Seite 124
zustößt, ob man das Werk von vorne nach hinten,
umgekehrt oder wild durcheinander liest. Denn dann hält man
ein Buch in Händen, "wie es noch nie eines gegeben hat, als
Buch nicht spürbar, nicht sich ins Bild schiebend, nicht
dingfest zu machen, gewichtslos, und doch ein Buch - wenn je
eines."
Mit "In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus" ist
es Handke beinah gelungen, dieses unerreichbare Ideal zu
realisieren, dieses Nicht-Buch der Bücher zu schreiben. Aber
auch der Versuch kann sich mehr als lesen lassen.
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[Peter Handke: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen
Haus. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1997. 316 S., 48,- DM.]
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