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16. Oktober 2011
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Sven Jachmann
für satt.org


  Art Spiegelman - Im Schatten keiner Türme
Art Spiegelman: Im Schatten keiner Türme. Aus dem Englischen von Christine Brinck und Jürgen von Rutenberg. Atrium, Zürich 2011, 42 Seiten, 34,90 Euro
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Art Spiegelman - Im Schatten keiner Türme

Die Vorbemerkung liest sich ein wenig so, als hätte Art Spiegelman vor dem 11. September die Rolle des hofierten Querulanten resigniert akzeptiert. »Ich hatte mich daran gewöhnt, meine bescheidenen Talente in Essays und Titelzeichnungen für den ›New Yorker‹ zu kanalisieren. Ich war wie ein Bauer, der dafür bezahlt wird, keinen Weizen zu säen, ich bekam mehr dafür, dass ich meine Fähigkeiten, beides zu verbinden, verkümmern ließ«, schreibt er im Vorwort der Sammlung seiner Zeitungscomics über den 11.9. Zum einen markieren sie Spiegelmans endgültigen Bruch mit dem konservativen Monatsblatt, zum anderen leiteten sie (nach über zehn Jahren seit der beispiellosen Erfolgsgeschichte von Maus) seine Rückkehr zum Comic ein. »Meine innere Unruhe bezüglich des ›New Yorker‹, die schon vor 9/11 eingesetzt hatte, wuchs, als sich das Magazin viel früher zurücklehnte, als ich das konnte. Ich wollte Comix machen – schließlich heißt meine Muse Desaster! -, aber der selbstgefällige Ton des Magazins schien mir nicht geeignet, Hysterie und Panik Ausdruck zu verleihen. Es war dann die deutsche Zeit, die die zehn entsprechend großformatigen und als Serie konzipierten Seiten zwischen 2002 und 2003 erstmals veröffentlichte. Zum zehnten 9/11-Jahrestag hat der Atrium-Verlag sie nun, vom Autor durch einige Anhänge ergänzt, hochgradig bibliophil als dünnes, aber riesiges Coffeetablebook herausgebracht.

Vergleicht man Spiegelmans Reflexionen des Terroranschlags mit jenen erweiterten Passagen seines neuveröffentlichten Frühwerks Breakdowns, in denen er die eigene Biographie als Comic reorganisiert und hierüber eine Geschichte des Mediums entwickelt, wird augenscheinlich, dass Im Schatten keiner Türme ebenso als Epilog der Breakdowns-Erzählungen hätte fungieren können. Spiegelman nimmt seine Zeugenschaft und Verarbeitung des 11. Septembers 2001 als Ausgangspunkt für einen Bildersturm der popkulturellen Zeichen, den er gleichzeitig mit Strategien der Autorinszenierung im Zaum hält.

Eher assoziativ denn linear berichtet Spiegelman, wie er mit seiner Ehefrau Francoise Mouly verzweifelt nach der gemeinsamen Tochter suchte, die zum Zeitpunkt der Anschläge nur wenige Blocks von den Twin Towers entfernt in ihrer Schule war. Dort hielt man sich streng an die reglementierte Ordnung fest: Nur dank Francoises Hysterie durfte das Elternpaar als einziges das Schulgebäude betreten. Derweil stürzten sich draußen Menschen aus den brennenden Hochhäusern; einer vollführte gar »als seinen letzten Akt einen eleganten Turmsprung«. Die Nachricht über den Anschlag auf das Pentagon gleicht, visualisiert durch ein Sammelbildchen der fünfziger Jahre, der von einem Angriff der Marsianer.

Schon an dieser Stelle suggeriert der Versuch, den Plot wiederzugeben, zu viel Sinn, denn ohne die formalen Mittel zu berücksichtigen, lässt sich das Projekt nicht annähernd erschließen. Spiegelman entwickelt ein hochkomplexes System aus (Selbst-)Zitaten, Verweisen, Parodien, Allegorien, Hommagen und Symbolen, um die Erschütterung seiner Welt pars pro toto ästhetisch in eine Erschütterung des Mediums zu übersetzen. Verschiedene Illustrations- und Karikaturstile und Zeichentechniken, politische Plakatkunst, satirische Werbeanzeigen, experimentelle Seitenarchitekturen, die sich der Zeichensprache des klassischen US-Zeitungscomics der Nuller-, Zehner- und Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts bedienen, destilliert Spiegelman zu einer vor Konnotationen nur so strotzenden Krise des Künstlersubjekts, eingebettet in eine Erzählstruktur, die zwischen Essay und Tagebuch oszilliert.

Geschichte wird für Spiegelman immer erst dann greifbar, wenn er sie mit einem narzisstischen Autoren-Ich verbindet. Sein Alter Ego verändert unablässig die Gestalt, mal trägt es die altbekannte Mausmaske, mal wird es zu Winsor McCays Little Nemo, zu Ignatz Mouse aus George Herrimans Krazy Kat oder zu Richard F. Outcaults Yellow Kid – Spiegelmans erschütterter Narzissmus ist auch ein amerikanischer, über den nun alle Zeichenproduktion zusammenstürzt. Das ist zum einen eine tiefe Verbeugung vor Spiegelmans Vorbildern (im Anhang präsentiert er neben einer Einführung in die Geschichte der Zeitungscomicbeilagen einige Originalseiten jener Blütezeit, unter anderem aus Lyonel Feiningers Kin-der-Kids, George McManus‹ Bringing up Father und McCays Little Nemo in Slumberland). Zum anderen verdichtet sich in diesem stilistischen Zugriff das Gefühl beim Anblick der siedenden, langsam zusammensackenden Gerippe der Türme, die Zeit stünde still. Dieses Bild, das sich, wie der Autor selbst sagt, »in die Netzhaut eingebrannt hat«, taucht leitmotivisch auf fast allen Seiten auf. Selbst die Form des Mediums wird zur Attacke: In einer Sequenz ist der panische Künstler zu sehen, an dessen Hals ein Parolen quäkender Weißkopfseeadler geknüpft ist. Das Panel dreht sich in fünf »Bewegungen« 90 Grad dreidimensional um die eigene Achse, so dass Spiegelman aus dem letzten Bild verschwunden ist und die Seitenansicht des Panels stattdessen die Figur eines brennenden Turm zeigt. Die Paranoia erklärt sich gleichermaßen aus dem antisemitischen Anschlag wie aus der propagandistischen Stimmungsmache, mit denen die Bush-Regierung ihre geostrategischen Konsequenzen befeuert.

Zentral bleibt das Maus-Trauma, das aus Auschwitz herrührt: Die Welt ist überall und jederzeit gefährdet, die Gefahr der Auslöschung wird zur dauerhaften Erfahrung. In diesem Sinne vereinen sich tiefe Verzweiflung und erschütternde Ironie, wenn Spiegelman beim Spaziergang durch New Yorks Straßen sein Selbstbild eines entwurzelten Kosmopoliten aufgibt, weil er endlich verstehe, »wieso manche Juden Berlin nicht gleich nach der Kristallnacht verlassen haben«.

Art Spiegelman - Im Schatten keiner Türme


Erstveröffentlichung in Konkret 09/2011