Der Weg vom Nörg zum Nej oder was auch immer zum Nagnag.
Frank Schulz Roman „Morbus fonticuli oder die Sehnsucht des Laien“
Warum der 38jährige Bodo „Mufti“ Morten „nackt bis auf Gummistiefel und Badehose“, mit einem Motorradhelm auf dem Kopf und einem Spaten in der Hand nach zehntägigem Verschwinden wieder auftaucht und seine verzweifelten Freunde, die ihn im Wald seiner Kindheit aufgestöbert haben, mit einem „Ganz großer Bahnhof, wa?“ begrüßt, das erfährt der Leser erst nach 700 Seiten. In der Zwischenzeit aber brennt der Autor ein wahres Feuerwerk an umwerfender Komik ab. Heraus kommt die Lebensgeschichte eines Menschen, der einige Jahre vor seinem kurzzeitigen Verschwinden von sich sagen kann: „Ah, ich war Strohwitwer, ich war Bummelstudent, ich war berühmter Redakteur! Ich hatte eine Skatrunde, bombenfeste Kumpels und eine blutjunge Konkubine mit dem saftigsten Hintern der Biosphäre, die mich anhimmelte und immer alles in den Mund nehmen musste und nichts höher verehrte, als Den Koitus, sowohl daheim als auch mit Vorliebe auf Kneipentoiletten ja, im öffentlichen Raum!“ Dass so ein gesegneter Zustand auf Dauer zerbröckeln muss, ist klar.
Nach seiner Kindheit im „Kaff“ nahe Hamburg und einer Ausbildung in selbiger Millionenstadt, beginnt Bodo Morten ein Studium (über den Autor Frank Schulz heißt es: „studierte diverses Geisteswissenschaftliches; dennoch Abschluss“), lernt Anita kennen, die er später heiraten wird und verdient sich sein Geld beim Anzeigenblatt „Elbe Echo“. Während Anita einen fünfmonatigen Trip durch die USA unternimmt, lernt Morten Bärbel kennen. Bärbel Befeld, 18jährige Nymphomanin, Kneipenkellnerin und spätere Inhaberin von Blumen Befeld. Es ist die mit dem saftigen Hintern, die mit dem melancholischen Kulthintern, die Hauptakteurin der „analen Annalen“, die sich über acht Jahre hinziehen, vom Ich-Erzähler unterteilt in unterschiedliche Phasen, etwa die „Blaugraue Epoche“ oder die „Lilaviolette Periode“. Es ist, wenn nicht die Geschichte sexueller Hörigkeit, dann zumindest die Geschichte einer sexuellen Besessenheit: Einer Bärbel-Bessesenheit, von Bodo Morten selbst schwittersmäßig formuliert: „Bärbeln, von vorn, von hinten, seitwärts, oben hinein, unten hinein. [ …] Bärbeln, bärbeln, BÄRBELN, BÄRBELN. Bärbeln und bärbeln lassen. Bärbeln und gebärbelt werden. Und sonst gar nichts.“
Zwei jeweils gut hundert Seiten lange Kapitel bilden den Rahmen von „Morbus fonticuli oder die Sehnsucht des Laien“. Auch wenn der Ich-Erzähler sich als allwissend gibt und man ihm deswegen nicht so ganz traut, was den Ablauf der Ereignisse angeht, so sind sie doch auf eine recht herkömmliche Weise erzählt. Im Zentrum des Romans stehen jedoch die „Journale“, die Bodo Morten 1994 und 1995 führte, um sich von dem zu befreien, was er seine „brainbluesbedingten Gesichte“ nennt, um das zu bewältigen, was ihm Geilheit und Alkoholsucht eingebracht haben. Ja, gesoffen wird entsetzlich viel. Und geraucht, seit man elf ist. Die Journale verzeichnen jede Zigarette und jedes Bier, später dann auch Puls, Blutdruck und solche Sachen wie das „Homöosmotische Stigma“ oder den „Plasmainfluenz. Font.“ (angegeben in Titer). Dass solche Messungen im Zusammenhang stehen mit der rätselhaften Krankheit „Morbus fonticuli“, wird den Leser dann nicht mehr verwundern. Wahrlich detailversessen aber wird der Journalschreiber, wenn er es in Angriff nimmt spektakuläre Liebesakte mit Bärbel Befeld zu beschreiben, furios etwa auf der Köhlbrandbrücke, dem öffentlichsten Bumsraum des Romans. Die sexuelle Obsession ist zeitweilig von einer Henry Millerschen Penetranz, aber niemals witzlos. Denn Schulz und sein Protagonist Bodo Morten (an dieser Stelle kann man die beiden schwer auseinanderdividieren) sind noch vor jeder Sexbesessenheit vor allem eines: Schreibbesessen. Eine wahre Namen-, Grammatik- und Wörterwut treibt sie um. Bodo weiß das sehr wohl: „Gott, wenn unsereins das Pulver hätte erfinden müssen, wär Tinte rausgekommen; das steht fest. Oder wohl doch eher Hefe.“ Da ist der Leser manchmal dankbar für das 30seitige Fremd- und Fabelwörterbuch im Anhang. Den „Weg vom Nörg zum Nej oder was auch immer zum Nagnag“ aber erklärt es auch nicht. Da muss man schon den ganzen Roman lesen. Und man wird es nicht bereuen. Denn es ist wahrscheinlich das umfangreichste und eindruckvollste Sittengemälde des Lebens in der Norddeutschen Provinz. Ein Barockwerk von Nabokovscher Detailgenauigkeit. Ein von größter Fabulierlust getriebenes Portrait von Kneipengeburtstagen und Betriebsfeiern. Es ist die Chronik eines Doppellebens, das den Erzähler schließlich in den (kreativen) Wahnsinn treibt. Und zu allem Überfluss finden sich hier auch noch die ergreifendsten Szenen einer dörflichen Kindheit zwischen Platt und Analphabetismus.
„Morbus fonticuli oder die Sehnsucht des Laien“ ist der zweite Teil der „Hagener Trilogie“, die Frank Schulz 1991 mit dem „Kneipenroman“ „Kolks blonde Bräute“ (der heute leider vergriffen ist) eröffnete. Hoffentlich ändert sich das bald wieder. Und hoffentlich lässt sich Schulz nicht wieder zehn Jahre Zeit, bis er den letzten Teil der Trilogie liefert. Denn nichts ist schlimmer als eine Droge, auf die man warten muss.