Bernd Gonner: Bachmanns Gedicht "Böhmen liegt am Meer", wiedergelesen nach dem 14. Dezember 2001.
Ingeborg Bachmann: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Suhrkamp, Ffm. 1998
165 Seiten, Hc EUR 28,80
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Liegt Böhmen noch am Meer?Böhmen liegt am Meer
Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus. Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund. Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern. Bin ich's nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich. Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen. Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land. Bin ich's, so ist's ein jeder, der ist soviel wie ich. Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn. Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren. Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser, und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen
Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal, wie ich mich irrte und Proben nie bestand, doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.
Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.
Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, ich grenz, wie wenig auch an alles inner mehr, ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält, begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.
(zitiert nach: Ingeborg Bachmann: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Hg. Von Hans Höller. Frankfurt/M. 1998, S. 117)
Am 14. Dezember 2001 verabschiedet der Bundestag das Anti-Terrorismus-Gesetz. Noch mehr Überwachung von unbescholtenen Leuten, die in der Regel davon nichts erfahren, weitere Aushöhlung der Rechtsschutzgarantien, die das Grundgesetz gewährt, neue Verschärfungen im Ausländer- und Asylrecht, weitgehend ungebundene Ermittlungskompetenzen für die Geheimdienste, sowie Ausweispapiere mit biometrischen Erkennungsmerkmalen. Der Staat wird zum Kontrollstaat, der ohne konkrete Verdachtsmomente Bürger erst einmal für gefährlich hält und ihnen misstraut. Das Gegenteil ist dann zu beweisen.
1964 fährt Ingeborg Bachmann von Berlin nach Prag. Nachhall aus ihren Interviews im Ohr: "Es ist ein großer Irrtum zu glauben, daß man nur in einem Krieg ermordet wird ( …) - man wird mitten im Frieden ermordet." " ( …) der Anlaß ist immer ein Mensch ( …) oder mehrere."1 " … wo fängt der Faschismus an. Er fängt nicht an mit den ersten Bomben, die geworfen werden ( …) Er fängt an in Beziehungen zwischen Menschen."2
Als ihr Zug die Eisenbahnbrücke über die Moldau überquert, vom Viadukt blickt man in tieferliegende Straßenzüge, Hinterhöfe, scharf an den Häusern vorbei, das grüne Gewucher streift fast das Fenster, da ist Prag zum Greifen nah - da stelle ich mir vor, wie sie, im Coupé sitzend, notiert "hier sind die Häuser grün", ausstreicht, darüberschreibt "sind Prager Häuser grün, ist hier für mich ein Haus" und "Hier sind die Brücken heil, spricht hier mich einer an"3
Hoffnungsvolles Ankommen - "Sind hierorts Häuser grün"
Boden unter den Füßen - "geh ich auf gutem Grund"
Loslassen nicht mehr benötigten Ballastes - "Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern" -
- alle Zeichen sind bereits da, man muss sie nur aufmerksam hören: "hierorts", was heißt "Häuser, Brücken, auf gutem Grund". Während der Zug einläuft, hat die Suche nach dem Ort erst begonnen, der sich aus dem realen Prag speist, aber einen ganz anderen Ort meint, als einen, den man mit Füßen betreten und begehen kann. Der (verborgene) Konditional-Satz ("Sind hierorts Häuser grün, …") macht klar, dass das reale Ankommen nur der erste Schritt ist, nur die Textoberfläche spiegelt. Dass jetzt, mit anderen Mitteln, die Fahrt erst beginnt: die Suche nach einem "heilen" Ort, nach einem "gute(n) Grund".4 Dazu bedarf es keiner (alten vergeblichen) Anstrengungen, die man vielleicht noch dort unternahm, woher man kommt.5 Es bedarf anderer Mittel wie "glauben"6, "hoffen"7, etwas (zu)lassen8. Zu dieser Suche ist jeder eingeladen: "Bin ichs nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich".9
In der zweiten Strophe10 wird klarer, wohin die Bewegung geht. Zu einem Grenzort ("Ich grenz …"), der zuerst einmal sprachlich ist (" …noch an ein Wort"), dessen andere Seite aber auf Realität abzielt ("so hoffe ich auf Land"). Das Land Böhmen, in dem ja Prag liegt, ist das Böhmen aus Shakespeares Wintermärchen.11 Es ist doppelt irreal - literarisches Zitat und geographisch fiktiv - und real vorhanden zugleich. Wieder diese Changieren zwischen aus der Wirklichkeit Bekanntem (Böhmen gibt es ja). und dem Übersteigen der Wirklichkeit. Dazwischen bewegen wir uns: "Liegt Böhmen noch am Meer" (was, wie wir wissen, nicht der Fall ist, worauf wir uns aber eingelassen haben) so kommen wir dorthin, wo nicht Wissen, sondern Glaube zählt "glaub ich den Meeren wieder", dann haben wir vielleicht, zum Ende, wieder festen Boden unter den Füßen, zumindest sind wir guten Mutes "Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land". Ist das der "gute Grund", von dem anfangs die Rede war? Die Grenzsituation hat nichts Statisches, sie ist flexibel, beweglich, ein "Grenzen", auf das ich mich einlasse ("so laß ichs grenzen"). Die Grenzsituation ist auch zeitlich limitiert, ein endlicher Moment ("noch"12 - jedes noch kann ins nicht mehr umschlagen). Sie ist ein schmaler Grat zwischen Realität und Fiktion, beide mehrfach gebrochen.. Es geht gar nicht darum, zu enträtseln, was hier was ist, welches Böhmen gemeint ist, was auf was verweist. Es geht um dieses Dritte, dieses "dazwischen". Wir sollen durch die Verschiebung unseres Blicks hellsichtig werden dafür. Das lyrische Ich will jeden von uns ansprechen ("Bin ichs, so ists ein jeder, der ist soviel wie ich."13), will sich, positiv gesehen, auflösen ("Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehen."14) An diesem Grenzort ist kein Festhalten, hier soll man loslassen, sich vom Ich-Zentrismus verabschieden, sich verlieren. Das bewegliche, haltlose Wasser wird zum Durchgang ins Feste: "Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. / Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf."15 Das Sprachspiel vom zugrunde gehen erreicht Grund. Der Verlorene findet sich als "unverloren"16. Das wässrige Element trägt.
Alle "Böhmen", alle aus dem Zwischenland, alle in irgendwelchen (wirklichen oder anderen) Häfen Gestrandeten17, alle die sich auf diese Fahrt einlassen wollen ("Seefahrer"), sind eingeladen: "Kommt her …" Der Ort dazwischen gewinnt, nachdem alles verloren ist ("Ich will zugrunde gehen"), an Boden, dessen man freilich nicht wirklich habhaft werden kann. Er bewegt sich zwischen kaum vorhanden und wachsender Ausdehnung: "Ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr"18. Wenn man "nichts hat", wenn einen "nichts hält"19, dann sieht man Land. Aus dem Konditional ("Grenzt hier ein Wort an mich") wird eine sichere Aussage. Aus dem Wort, auf das man sich eingelassen hat ("Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ichs grenzen"), wird das Wort, auf das man selbst zuhält: "Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land"20. Das Land ist (nur?) das andere des Wortes und umgekehrt. Ein utopischer Raum - mit Mitteln der Sprache entworfen, der aus der Realität kommt und auf Realität letztlich wieder abzielt: "Dort find ich Böhmen wieder."21 Insofern ist die Frage, ob Böhmen noch am Meer liegt, schon lange, schon in der Überschrift beantwortet: "Böhmen liegt am Meer". Der Zug fährt über die Brücke, über die Moldau. Wir sehen das Wasser grünlich unter den Schwellen, uns gehen die Augen auf: Böhmen liegt am Meer.22
Der utopische Raum ist ein Raum der glücklichen Begegnung von Menschen. Dieser Raum, der nicht im Stillstand sich öffnet, sondern nur, wenn wir aktiv werden, uns bewegen, im räumlichen und geistigen Sinn: er scheint schmaler zu werden. Nicht viele haben sich in diesem Land kritisch zu Wort gemeldet, als der Bundestag am 14. Dezember dem Sicherheitspaket der Bundesregierung zugestimmt hat. Abends lässt man die Rolläden herunter, richtet es sich in seinen vier Wänden ein. Mit seltsamer Aufgeregtheit werden Ereignisse wie die 24-Stunden-Staus auf den Autobahnen um Weihnachten herum, Folgen übermäßiger Schneefälle, zu beinah-nationalen Katastrophen stilisiert, weil man sonst keine Auswege hat im immer sauberer abgezirkelten Alltag. Wenn ein Rechtsstaat, wie mit dem Anti-Terrorgesetz, zu einem Präventionsstaat umgebaut wird, der jeden Menschen als potentiell gefährlich ansieht - und Nicht-Deutsche, sprich Ausländer sind hier besonders frag- und überprüfungswürdig, dann passt das in das Bild des Rolladen-Herunterlassens. Den meisten scheint solch ein Sicherheitsstaat recht zu sein, sie scheinen ihn zu billigen, ja gutzuheißen. Liegt Böhmen noch am Meer? Solange es Menschen gibt mit der geistigen Haltungen des dazwischen, solange liegt Böhmen noch am Meer. Bachmanns Gedicht entstand 1964. Mir scheint, in den 35 Jahren seither ist der Grat schmaler geworden.
Ein Bild, eine Utopie zum Ende, die inzwischen von der Realität zerstörerisch eingeholt wurde - und die vielleicht gerade deshalb noch wirkkräftiger ist: Im "Wüstenbuch" teilen die Bewohner des Wadi Halfa mit der Europäerin Franza ihr einfaches Mahl. " … vier schwarze Hände und eine weiße Hand sind abwechselnd im Teller, dann plötzlich alle Hände gleichzeitig. ( …) … das erste und einzige Essen hat stattgefunden, findet statt, es ist das erste und einzige gute Essen, wird vielleicht die einzige Mahlzeit in einem Leben bleiben, die keine Barbarei, keine Gleichgültigkeit, keine Gier, keine Gedankenlosigkeit …, aber auch keine, gestört hat."23 Wortloses, bedingungsloses Einverständnis von Weißen und Nicht-Weißen; Begegnung auf der einfachsten menschlichen Ebene. Dann trinkt Franza vom Nilwasser, das "besser schmeckt als alles Wasser der Welt."24 All das geschieht im Wissen darum, dass Wadi Halfa mit dem wachsenden Nilstaudamms untergehen wird (untergegangen ist). Ich spüre in diesem Ritual des Essenteilens, in diesem Wasserschöpfen, das ans Wasser der Taufe erinnern mag, etwas Widerständiges - heute noch mehr als bei früherer Lektüre: "Ich fahre nach Wadi Halfa. Daran kann ich mich klammern. Denn es wird untergehn."25 Es liegt in der Tat an uns, ob Böhmen am Meer liegen bleibt. Verhinderungsgründe sind Barbarei, Gleichgültigkeit, Gier, Gedankenlosigkeit, Bachmann kennt sie.
Fußnoten
1 Chr. Koschel, I. v. Weidenbaum (Hg.): Bachmann, Ingeborg: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. München 1983, S. 89f.
2 Chr. Koschel, I. v. Weidenbaum (Hg.): Bachmann, Ingeborg: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. München 1983, S. 144. 3 Auf den Faschismus zwischen Mann und Frau, den Bachmann als Basis des Faschismus ansieht, sei hier nicht eingegangen. Zitiert nach: Ingeborg Bachmann: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Hg. Von H. Höller. Frankfurt/M. 1998, S. 101)
4 "Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund" (Z. 2)
5 "Verlorene Liebesmüh" meint eine Mühe, die sowieso umsonst ist. (Z. 3).
6 Z. 6, 7
7 Z. 7
8 Z. 5: "So laß ichs grenzen"
9 Z. 4
10 Z. 5-7
11 Shakespeare verlegt in seinem "Wintermärchen" Böhmen ans Meer,
12 Z. 6, 7
13 Z. 8
14 Z. 9
15 Z. 10f.
16 Z. 12
17 "Hafenhuren", "Schiffe unverankert", etc. (Z. 13-15)
18 Z. 22
19 Z. 23
20 Z. 21
21 Adorno skizziert in seinen Gesprächen mit Ernst Bloch die Utopie folgendermaßen: " … die Utopie
steckt jedenfalls wesentlich in der bestimmten Negation, in der bestimmten Negation dessen, was bloß ist, und sich dadurch, dass es sich als Falsches erweist, konkretisiert, immer zugleich hinweist auf das, was sein soll." (R. Taub, H. Wieser (Hg.): Gespräche mit Ernst Bloch. Frankfurt/M. 1975, S. 70) Simpel gesprochen negierte Bachmanns Utopie-Vorstellung den (alltäglichen) Faschismus, der vom zwischenmenschlichen und zwischengeschlechtlichen zu den Ebenen der Staaten und Völker reicht.
22 Dass die Moldau von den Tschechen auch das böhmisches Meer" genannt wird - ein Sprachspiel, ein Sprachfund mehr.
23 Ingeborg Bachmann: "Todesarten"-Projekt. Kritische Ausgabe. Hg. Von M. Albrecht und D. Göttsche unter Ltg. von R. Pichl. Bd. I: Todesarten, Ein Ort für Zufälle, Wüstenbuch, Requiem für Fanny Goldmann, Goldmann/Rottwitz-Roman und andere Texte. S. 281f.
24 Ingeborg Bachmann: "Todesarten"-Projekt. Kritische Ausgabe. (s. Fußnote 23), S. 278
25 Ingeborg Bachmann: "Todesarten"-Projekt. Kritische Ausgabe. (s. Fußnote 23), S. 278
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