"Menschen
funktionieren nicht!"
Die Gnade der späten Geburt traf die Generation, die
zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes so kindisch war,
daß sie den Holocaust nicht aktiv oder passiv unterstützen
konnte. Über die meisten Personen, die diese Gnade wortgewandt
für sich in Anspruch nehmen und nahmen, kann man allerdings
mutmaßen, daß diese im Banner des Hakenkreuzes
begeistertete Mitläufer geworden wären. Ich und alle
anderen lebenden Vertreter meiner Generation kamen auch in den
Genuß einer Gnade; nämlich in die Gnade der Geburt. Im
Zeitalter der zwar rezeptpflichtigen, dennoch unkomplizierten
Verhütung war für viele in der Entstehung befindlichen
Lebewesen der Akt der Niederkunft eine besondere Gunst, denn etliche
Bälger und heutige Mitzwanziger verschwanden spurlos im
mysteriösen Pillenknick. Obwohl ich aus einer unehelichen und
dazu noch protestantischen Verbindung stamme, wurde ich geboren und
möchte mich hierfür an dieser Stelle ein weiteres Mal
aufrichtig bei meiner Mutter bedanken. Nur aufgrund meiner Geburt
konnte ich eine unbeschwerte Kindheit mit unzähligen
Yps-Heften und mit
über hundert
Playmobilfiguren als
Spielkameraden genießen.
Die ursprüngliche Anonymität dieser
Playmobilfiguren
fasziniert mich bis heute. Während man beim Kauf vielerlei
Spielfiguren (z.B.
Barbie oder
Ken oder
HeMan) immer schon
ihre sozialen Identitäten (Name, Herkunft, Beruf) mitgeliefert
bekommt und diese Wesen einzig als homo sociologicus, also als
zugeschriebene, rollenspielende Wesen in einfachen
Reiz-Reaktionsschemata auftreten können, erhält man beim
Kauf der
Playmobilfiguren
allein das Geschlecht und bestenfalls noch ihre gesellschaftlichen
Funktionen als Information zugeteilt. Den Rest müssen sich die
Playmobilfiguren im
Handlungsvollzug selbst erwerben. Statt Charaktere erwirbt man
Berufe; Wesen also, die sich ebenso nackt und entindividualisiert wie
die Protagonisten in den Schriften von Franz
Kafka präsentierten. Man weiß,
daß der Sheriff männlich und Sheriff ist; ob er aber
trinkt, verheiratet oder aidskrank ist, weiß man nicht. All
diese Eigenschaften müssen im kreativen Spiel erst noch
herausgestellt werden. Das Rollenverständnis und ihre Historie
erwirbt die Figur also durch die Wechselwirkungen zwischen
Aktivitäten, Interaktionen, Gefühlen und Normen zu anderen
Figuren. Diese unauflösbare Verschränkung von Innen und
Außen, von Individualität und Sozialität, geben dem
Spiel eine ungemein realistische Komponente. Bei
Novalis heißt
es: "Jeder Mensch ist eine kleine
Gesellschaft" ; und bei
Sigmund Freud:
"Jede Gesellschaft ist ein umfangreicher
Mensch". Vielleicht ist dieser
sozialisationsschaffender Wesenszug des jungen spielenden Menschen
ein Indiz auf eine spätere geistig oder schöpferische
Tätigkeit, denn ich kenne viele Comiczeichner, Autoren, Maler
und Musiker, die in ihrer Kindheit viel mit
Playmobil gespielt
haben, so wie ich auch viele technisch versierte Personen wie
Architekten, Maschinenbauer oder Physiker kenne, die sich mehr zu
Lego oder
Fischertechnik
hingezogen fühlten.
Unter Beachtung dieser Überlegungen verwundert
es nicht, daß sich
Playmobilfiguren
hervorragend als literarische Protagonisten eignen, denn Literatur
ist nichts anderes als dieses beschriebene Spiel, also
Einführung und Charakteristik von Personen durch fiktive
Interaktionen. Es verwundert allerdings, daß ein begnadeter
Comiczeichner und -autor, der sich dieses Spieles annahm, weithin in
Vergessenheit geriet. Ich spreche von Rainer
Willingstorfer, der von 1977 bis Februar 1978
für die Playmobil-Merchandising
GmbH (Zirndorf) zwei wunderbar farbige und
achtundvierzig Seiten lange Broschüren textete und zeichnete.
Wenn man davon ausgeht, daß der Qualitätsgrad eines
Comiczeichners sich nach der Beherrschung seiner Figuren richtet,
dann ist
Willingstorfer ein
Meister seines Faches. Seine Zeichnungen bestechen durch einen
Realismus, den man selten findet. Jede Szene stellt sich so dar,
daß man sie mühelos mit echten Playmobilfiguren
nachstellen könnte.
Willingstorfer richtet
seine Zeichnungen haargenau auf die Anatomie der Figuren aus - es
gibt kaum einen Zeichner, der die Natur so genau betrachtet und
abbilden kann wie er. Darüberhinaus vermag er
atmosphärische Geschichten und Konflikte glaubhaft und spannend
dicht aufzubauen.
So etwa in seinem ersten Album Goldrausch in
Klickytown: In einem verschollenen Teil des
Wilden Westens steht die verschlafene Kleinstadt Klickytown unter dem
schützenden Stern des etwas vertrottelten Sheriffs McKlick.
Alles geht in diesem letzten Stück Heile Welt seinen gewohnt
friedlichen Gang, bis eine Goldader in der Nähe der Stadt
entdeckt wird, die das bekannte Goldfieber, welches bereits
Dagobert Duck 1898 in
Klondike erfaßte und bereicherte, ebenso schnell wie den
Ebola-Virus unter den sanftmütigen Einwohner Klickytowns
ausbreiten läßt. Doch auch finstere Gestalten, etwa die
grausame Blacky-Bande, zieht das teure Edelmetall wie Butter das
Brötchen an. Unbarmherzig rauben die Gangster die hart
schuftenden Schürfer aus und flüchten Richtung Mexiko. Die
gebeutelten Goldsucher werden daraufhin von Indianern entführt,
die annehmen, daß die weißen Siedler statt Gold
Kriegsbeile ausgruben. Sheriff McKlick beauftragt nach Besichtigung
des Tatortes die Kavallerie mit der Verfolgung der Indianer. In der
Zwischenzeit zieht die Blacky-Bande ihre blutige Spur quer durch den
Wilden Westen.
Willingstorfer
erschafft in diesem Band ein realistisches Szenario, das den besten
Beispielen der Wild-West-Literatur folgt. Die drei
Handlungsstränge sind elegant ge- und verknüpft und
führen letztendlich doch zu einem glücklichen Ausgang.
Das zweite Comicalbum Schwere
Zeiten für Bieberstein spielt 1520 in
der Zeit der ersten Erdumsegelung durch Fernao de Magalhaes und
variiert lustvoll den Robin
Hood-Mythos. Statt der Akzentuierung eines
einzigen Protagonisten verdeutlicht diese Geschichte allerdings die
Stärke einer solidarisierten Gemeinschaft. Der
rechtmäßige und gerecht handelnde König Klaus
verließ zur Verteidigung des Vaterlandes seine Schutzbefohlenen
und übertrug seinem habgierigen Bruder Roderich die
Regierungsgewalt, die dieser schamlos ausnutzt. Roderich
tyrannisiert, wie unser Finanzminister Waigel, das idyllische
Mittelalterstädtchen Bieberstein mit unerfüllbaren
Steuerforderungen und willkürlichen Sonderabgaben. Seine
Soldaten erpressen die friedfertigen Handwerker und Bauern und
schrecken noch nicht einmal vor Entführungen und
Vergewaltigungen zurück. Unter der Führung des smarten
Grafen Trix vom Kastell, der Trickreiche, formiert sich massiver
Widerstand gegen das organisierte Verbrechen. Als schließlich
König Klaus aus dem Kriege siegreich zurückkehrt, setzt er
sich an die Spitze der Partisanengruppe, um seinen bösen Bruder
vom Thron zu stoßen und das Land in einen Hort der
Gerechtigkeit zurückzuverwandeln.
In diesen beiden Abenteuern lotet
Willingstorfer die
Grenzen des Mediums Comic aus. Leider konnte der bereits
angekündigte dritte Band Feuermobil auf
heißer Spur aus mir unerfindlichen
Gründen nicht erscheinen, obwohl es nach den beiden historischen
Alben sehr interessant zu lesen gewesen wäre, wie Willingstorfer
die Gegenwart beleuchtet hätte. Auch wenn die Reihe
"playmobil comic"
nicht den gewünschten finanziellen Erfolg erbrachte, setzte sich
der Zeichner und Texter ein unumstößliches Denkmal. Ich
kann nur jedem Leser die Anschaffung dieser Bände ans Herz legen
und hoffen, daß
Willingstorfer endlich
die Ehre erhält, die er sich erzeichnet und erschrieben hat.
Vielleicht aber werden auch neue Generationen von Comiczeichnern die
Playmobilfiguren für sich entdecken und neue Abenteuer
erschaffen, denn diese Figuren bieten das Potential für viele
wunderbare neue Geschichten. Daß bis heute noch keine
Geistlichen in einer Playmobilfigur verewigt wurden, wird einige
Zeichner allerdings zurückschrecken lassen.
Zum Schluß noch eine Anekdote: Auf dem
2. Internationalen Comic
Festival in Hamburg streifte eine
karrierebewußte Frau durch die weiträumigen, doch schlecht
besuchten Deichtorhallen und suchte animationsfähiges
Comicmaterial für Fernsehzeichentrickfilme. Selbstredend
führte ihr Weg auch an dem
Jochen-Stand vorbei.
Mit Dirk und Torsten über ihre Pläne plaudernd, bemusterte
sie die herrlich bunte, wild-sanfte Angebotspalette. Als sie den
poetisch erzählten und gestalteten Alice-Band von ATAK
aufschlug, erschrak sie und rief ins weite Rund:
"Menschen funktionieren
nicht!".