Penis statt Peng!
Comics für das nächste Jahrtausend:
Neue und alte
Bildgeschichten von Teer und Jule K.
Einer der verdienstvollsten deutschen Comicverlage der letzten
Jahre ist zweifelsfrei Jochen Enterprises. 1992 verlegte der Berliner
Kleinverlag mit Chester Browns autobiographischem Meisterwerk
"Die Playboy-Stories“ einen der aufregendsten amerikanischen
Indepentcomics der Gegenwart - und es sollten später zahlreiche
andere herausragende zeitgenössische US-Comicserien wie Jeff
LeVines „No Hope", Renée Frenchs „Grit Bath",
Jim Woodrings „Frank“ oder zuletzt Peter Bagges „Hate"
folgen. Zwei Überlegungen bestimmen seit jeher die Verlagspolitik:
Das publizierte Comicmaterial muß nicht unbedingt massentauglich,
dafür aber innovativ und unverkennbar sein, zudem sollen
die Publikation ansprechend und trotzdem preisgünstig präsentiert
werden. Deshalb griff Jochen Enterprises schon früh auf das
seinerzeit fast vergessene, im Vergleich zum Comicalbum viel billigere
Heftformat zurück, und zwar lange vor dem so genannten „Heftchenboom"
Mitte bis Ende der Neunziger Jahre, der den Echterdinger Dino-Verlag
später an die Spitze der deutschen Comicbranche katapultierte.
Jochen Enterprises, die „Gesellschaft zur Förderung
intelligenter Unterhaltung", verlegt aber nicht nur amerikanisches
Lizenzmaterial, sondern machte sich von Anfang an auch um die
hiesige Comiczeichnerlandschaft verdient. Denn hier fanden zahllose
deutschsprachige, hauptsächlich Berliner Zeichner eine erste
verlegerische Heimat, die Liste der Verlegten liest sich beinahe
wie ein „Who is who“ der deutschen Comicprominenz: Lillian
Mousli, Atak, Fil, Ol, Anke Feuchtenberger, Tom und viele andere
mehr. Dieser Tage erschien mit „Spit-City“ von Teer
nun ein weiteres preisgünstiges Heft eines jungen, außergewöhnlichen
Comicschaffenden.
Der 1971 in Bruchsal geborene Wahlhamburger Teer ist ein Grenzgänger
zwischen den Bereichen Comics und Malerei, was man nicht unbedingt
seinen Bildgeschichten, sondern vielmehr seinen malerischen Arbeiten
anmerkt. Und das ist auch gut so, denn seine schwarz-weißen
Comics besitzen eine überaus starke und nachhaltige zeichnerische
Ausdruckskraft. Teer beherrscht das Wechselspiel zwischen schwarzen
und weißen Flächen vortrefflich, geschickt setzt er
dabei Schraffuren ein, das Layout der Seiten zeugt von großer
Kenner- und Könnerschaft, und überhaupt spürt der
Leser/Betrachter in jedem Panel Teers Liebe zum Medium, beispielsweise
wenn er als Soundwort für den Pistolenschuß eines Hinrichtungskommandos
"Penis“ statt „Peng!“ wählt.
Ja, es geht wirklich hoch her in Spit City, dem Moloch, der Polizeipolis,
Panel für Panel. Der Bürgermeister ist wie in Entenhausen
- zumindest im übertragenen Sinne - ein Schwein, die Gefängnisse
sind voll, Drogen alltäglich, Leid und Elend allgegenwärtig,
Analogien erwünscht. Kein Wunder, dass die Anarchie in einem
solchen Umfeld seltsame Blüten treibt. Teer beweist dies
mit dem Höhepunkt des Heftes, der bittersüßen
Romanze „Sally liebt die Menschheit", einer eindringlich
erzählten und wundersamen Liebesgeschichte um zwei Bombenleger.
Der zweite Teil des Heftes, der Auftakt einer weiteren Episode
aus dem Leben in Spit City, kann da bislang noch nicht ganz mithalten,
aber wir sind ja auch erst am Anfang der Handlung und sie wird
sicherlich noch einige überraschende Wendungen für uns
bereit halten.
Kennern der Materie ist
Teer übrigens seit längerem
ein Begriff, in seinem Eigenverlag
EGO erschienen unter dem Titel
"Wahre Seiten für harte Zeiten“ bereits drei Zusammenstellungen
mit früheren Comicarbeiten von ihm. Auch diese Sammelbände
sind überaus lesens- und empfehlenswert und dokumentieren
zugleich
Teers Werdegang sehr genau. Deutlich kann der Leser/Betrachter
so verfolgen, wie der wilde und expressive frühere Zeichenstil
mit der Zeit immer klarer und ausgereifter wurde, aber auch erzählerisch
hat
Teer erhebliche Fortschritte gemacht, seine aktuelleren Bildgeschichten
sind viel ökonomischer erzählt, Bild und Text harmonieren
nun hervorragend miteinander, während die Panels früher
häufig bloß wie Wortillustrationen erschienen. Insofern
sind die drei Bände auch ein gutes Anschauungsmaterial für
künftige oder noch nicht vollentwickelte Comiczeichner.
Diese finden vielleicht in „Klinik", der Comic-Anthologie
des
EGO-Verlags, ein Forum. „Klinik“ versammelt bizarre,
zum Teil ausgesprochen krude, aber durchweg bemerkenswerte Comics,
Cartoons und Erzählungen. Besonders auffällig sind hier
die Bildgeschichten von
Jule K., die mit „Strange Girls"
ebenfalls schon einen Soloband im
EGO-Verlag veröffentlicht
hat.
Die Tuschezeichnungen von Jule Kruschke, geboren 1974 in Lemgo
und Herausgeberin der Heftreihe „Lovesick", wirken wie
Arbeiten aus dem Kunstunterricht, sind verspielt, naiv und im
besten Sinne des Wortes dilettantisch - und erinnern mitunter
ein wenig an die sehr frühen Arbeiten von Minou Zaribaf,
die mit ihren Bildgeschichten seinerzeit Andreas Michaelkes unvergleichliches
Comicegozine „Artige Zeiten“ bereicherte. Dieser sehr
ungezwungene, auf Konventionen keinen Wert legende Zeichenstil
von
Jule K. korrespondiert glänzend mit der in „Strange
Girls“ erzählten Geschichte um „Freundschaft, Liebe,
WG's, Musik, Drogen, Zeugen Jehovas und Gehirnschäden",
die Autorin erzählt frei und offenherzig in einem sehr persönlichen
Ton mit sehr viel Charme und Witz.
Auf dem ersten Blick bilden Jule K.s dilettantische Bildgeschichten
einen Gegensatz zu den handwerklich perfekten Comics von Teer,
doch der Kontrast ist kein Widerspruch, vielmehr zeigt er exemplarisch
die Stärken und vielfältigen Möglichkeiten des
Mediums. Comics sind zum einen eine durchaus ernsthafte und ernstzunehmende
Erzählform, gleichwohl bieten sie auch Freiräume für
ein unbekümmertes, „naives“ Erzählen. Jule
K.s Geschichten wären als literarische Texte sicherlich unverdaulich,
doch in Comicform sind sie äußerst reizvoll und verführerisch
und unterhaltsam.
Übrigens hat
Jule K. auch Beiträge in der hübschen,
von Lillian Mousli und Evelin herausgegebenen Comicreihe „Fräuleinwunder"
veröffentlicht, verlegt von - na wem wohl? - Jochen Enterprises!
Ja und damit schließt sich der Kreis. Solange es weiterhin
so ambitionierte und engagierte Verlage wie
EGO oder Jochen Enterprises
gibt, muß dem hiesigen Comicfan wirklich nicht bange sein.
Weiter so!
PS:
Eine Schande.
Jochen Enterprises - die Gesellschaft zur Förderung intelligenter Unterhaltung - hat die Segel gestrichen, ihr Versagen erklärt, aufgegeben.
Keine neuen
Jochen Comics mehr.
Umso wichtiger:
ReproduktSchwarzer Turm
Zwerchfell Verlag