Lothringen, in den neunziger Jahren. Alexandre ist 17, verklemmt, mit langen Haaren, einer altmodischen Brille und wenig Zukunft. Alexandre bewundert Karim. Karim ist 22, ein gutaussehender Frauenheld mit einem Fünfziger-Jahre-Tick und einem schlechten Ruf. Eines Abends folgt Alexandre fasziniert Karim auf dessen nächtlichen Touren: Karim hat ein Stelldichein mit einer verheirateten Frau, deren Ehemann die beiden in flagranti überrascht, während Alexandre vor dem Haus wartet.
Blöderweise ist der gehörnte Ehemann der ehrgeizige Funktionär einer rechtsnationalen Partei (der Front National ist natürlich gemeint, wird aber nicht so genannt), und das bedeutet doppelten Ärger für den Araber und Ehe-Einbrecher Karim. Alexandre kann ihn zwar in letzter Minute warnen und mit Karim fürs Erste vor den rechtsextremen Schlägern fliehen, aber die Jagd geht damit erst richtig los.
Die beiden Helden jagen durch halb Frankreich - immer auf der Flucht vor dem rachsüchtigen Ehemann und seinen Helfern. Die Autobahn, die den Norden mit der Mittelmeerküste verbindet, eben die Autoroute du Soleil, hat dem Werk den Titel gegeben und spielt eine besondere Rolle bei dieser Jagd. Jäger und Gejagte begegnen allerlei skurrilen Gestalten, und besonders für Alexandre ändert sich einiges, nicht nur sein Aussehen.
Baru präsentiert uns mit Autoroute du Soleil eine gelungene Mischung aus Road-Movie, Abenteuergeschichte und einer klassischen Education sentimentale. Das Schema "böser Rechter und verfolgter Araber" nimmt er nur als Aufhänger für eine im Grunde unpolitische und sehr persönliche Geschichte. Ihn interessieren die Geschichten hinter den Masken, das Scheitern persönlicher Träume, viel mehr als das, was seine Figuren oberflächlich ausstrahlen. Dabei bleibt seine Hauptperson Karim ziemlich blass, während wir von einigen interessanten Nebenfiguren erstaunlich viel erfahren. Unglückliche Vernunftehen, gestrandete Hippieträume und die Freudlosigkeit des Kellnerinnendaseins an der Autobahn - all dies webt er kurzweilig in den rasanten Lauf der Geschichte ein.
Für einen europäischen Comic ist die Geschichte, die sich über 430 Seiten erstreckt, ungewöhnlich lang. Baru schafft es, den Spannungsbogen auf diesem Umfang durchzuhalten und verfällt weder ins Episodische, noch wirkt diese aufregende und schnelle Geschichte je episch oder gar langatmig.
Grafisch verbindet Autoroute du Soleil in bemerkenswerter Weise zwei Stilrichtungen. Die Menschen sind karikaturhaft verzerrt, nicht nur die Gesichter, auch die Bewegungen wirken oft stark verfremdet und in Richtung zur Abstraktion vereinfacht und reduziert. Dagegen wird die Umgebung der handelnden Personen realistisch wiedergegeben, und die technischen Einrichtungen sind sehr exakt ausgeführt. Zum Greifen nahe scheinen die Züge, Autos und Telefone zu sein. Harte, abrupte Übergänge erinnern an filmische Instrumente, die Dialoge sind eher spärlich. Atmosphäre und Bewegung sind für Baru die wesentlichen Ausdrucksmittel.
Tom Tykwer trifft David Lynch? Ein bisschen meint man, diesen Geist zu spüren, wenn man Autoroute du Soleil liest. Die wesentlichen Einflüsse dieses Comics stammen aus anderen Medien, vor allem vom Film, soviel steht fest. Darin liegt zweifellos Barus große Stärke: Er kann Atmosphären schaffen. Eine vielbefahrene Raststätte mitten in der Nacht, wo ein Jäger in geduldiger Spannung auf sein Opfer lauert; hier gelingt es dem Autor, mit wenigen Bildern den Leser vollständig eintauchen zu lassen in seine Welt - und das obwohl die Figuren durch ihre Verfremdung nie zuviel Nähe erlauben.
Schade nur, dass Baru sich als Manga-Autor sieht und seine Geschichte in schwarzweiß auf (zumindest im Original) schlechten Papier drucken lässt. Aus grafischer Sicht wäre das nicht nötig gewesen: Das schnelle Tempo, die harten Schnitte und die abstrahierten Personen muten dem Leser genug zu, da hätte der Realismus einer "normalen" Farbwiedergabe auf ordentlichem Papier nicht geschadet. Die Stimmung hätten sich so vermutlich noch stärker verdichten lassen.
Man darf Baru seit diesem Werk zu den ganz Großen des Comics zählen. Sein souveräner Umgang mit dem Material und dem Umfang seiner Geschichte lassen ihn sowohl in Inhalt als auch in der Umsetzung weit über den Durchschnitt der gegenwärtigen Comic-Literatur herausragen.