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Juni 2004
Helene Hecke
für satt.org


Joe Sacco:
Palästina

Zweitausendeins 2004

Joe Sacco: Palästina

286 S., sw, 17,90 EUR
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Joe Sacco: Palästina


Joe Sacco (photo by Michael Tierney)
Joe Sacco
Foto: Michael Tierney

Joe Sacco zeichnet mit "Palästina" die Verhältnisse in den besetzten Gebieten. Er verlässt dabei eingetretene Pfade – sowohl in geographischer als auch in künstlerischer Hinsicht. Ein dokumentarischer Comic? Eine journalistische Reportage in gezeichneten Bildern? Das war etwas ganz Neues bei der englischen Erstausgabe vor 10 Jahren. Nun liegt endlich eine sehr gelungene deutsche Übersetzung vor.


Saccos Reise führt durch Orte, deren Namen aus Nachrichtensendungen vertraut klingen: Kidrontal, Hebron, Ramallah, Nablus und schließlich den Gazastreifen. Die Orte gewinnen Gestalt, vor allem aber jene Menschen, die dort ein bizarres Leben unter Kriegsbedingungen fristen müssen. Zum Zeitpunkt der Reise, im Winter 1991/92, ging die erste Intifada ihrem Ende zu. Eskalationen auf israelischer und palästinensischer Seite waren an der Tagesordnung. Einer schmeißt einen Stein, ein anderer schießt auf Jugendliche, der nächste demoliert die Fenster der Nachbarn und am Ende kommen die Soldaten, sägen hundertjährige Olivenbäume ab und werfen irgendeinen Obsthändler ins Gefängnis …

Es wirkt beinahe beliebig, wie die Aufzählung tragischer Schicksale den Reisealltag begleiten. Hunderte von Interviews wurden für dieses Epos aufgezeichnet. Sein persönliches kleines Abenteuer entschärft der Zeichner häufig mit dem Privileg eines amerikanischen Passes. Doch die Gesprächspartner zeigen Wunden und Narben, erzählen von ihren Toten und den Foltermethoden in Gefangenenlagern.

Joe Sacco: Palästina

"Palästina" in seiner Gesamtausgabe fordert dem Leser Einiges ab. Es bleibt auf seinen 300 Seiten immer fragmentarisch, wie so viele Interviews zwischen Ausgangssperre und Taxifahrten. Es regnet andauernd, man spürt geradezu den Matsch unter den Schuhsohlen und liest sich durch verdammt viel Text. Die Menge der Einzelschicksale wirkt bedrückend, doch der Erkenntnisgewinn hat Struktur. Sacco schildert die Organisationsformen des Widerstands, die Bedingungen in Gefangenen- und Flüchtlingslagern, die ärztliche Versorgung, spricht mit Frauengruppen, Sozialarbeitern, Fabrikanten und setzt sich auch mit aufgeklärten Israelis auseinander. Galten "Palästinensertücher" in den 80ern auch hierzulande als modisch, so erfährt man hier näheres über die Farbwahl, Politisierung und Rekrutierungsmaßnahmen von Fatah, Hamas und Volksfront …

Am eindrucksvollsten jedoch gelingen Sacco die banalen Alltagsbeschreibungen in einem unbeschreiblichen Lebensraum. Er findet sich selbst wieder in den primitiven Bedingungen, die auch vor palästinensischen Kollegen nicht Halt machen: "Man kann am Tisch eines Flüchtlings essen und man kann in seinem Bett schlafen ( …) Aber seine Unterwäsche tragen?" Versuche zu zeigen, was du siehst, aber nicht Teil der Sache zu werden?

Gerade das journalistische Interesse findet seinen zynischen Ausdruck (" … wünschte, ich hätte das Baby gesehen!"). Sacco hantiert also mit dem doppelten Boden seines Mediums. Er dokumentiert das Gesagte und stellt doch seine Position auch immer wieder in Frage. Ihm entgeht nicht die obszöne Seite seines journalistischen Auftrags, ständig im Zwiespalt zwischen Anteilnahme, Stellungnahme, Voyeurismus und verwertbarer Darstellung. Bleibt er seinen Protagonisten etwas schuldig? Eine moralische Haltung findet in diesem politischen Konflikt zu schnell ihre Grenzen. Also setzt sich der Reisende hin und nimmt noch einen Tee. Denn einfache Lösungen finden sich nur in Superheldencomics.


Comics handeln normalerweise mit Fiktion. Sind sie "autobiographisch", so ist es eben die Fiktion der Selbstwahrnehmung. Sacco hat ein neues Genre gesetzt und nennt es "Comicjournalismus". Die Vielzahl von Einsichten und Ansichten hätten allerdings auch mit keinem anderen Medium so dicht transportiert werden können. Ein "American Book Award" (1996) war bei diesem zeichnerischen und literarischen Kraftakt das Mindeste. Die liebevolle Ausstattung der deutschen Ausgabe, das hervorragende Lettering und die sensible Übersetzung lassen auf weitere Verbreitung hoffen!