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Juli 2004


Craig Thompson:
Blankets

Speed 2004

Craig Thompson: Blankets

Aus dem Amerikanischen von Claudia Fliege

592 S., 34,00 EUR
» amazon

» Thompson-Interview (dt.)

Craig Thompson:
Blankets

Man fühlt sich beim Lesen wie Marcel Proust beim Verspeisen seiner in Lindenblütentee getränkten Brioche: Craig Thompson erzählt meisterlich vom Erwachsenwerden.




Craig Thompson: Blankets
Craig Thompson

Wir schreiben das Jahr 1993 in Wisconsin, USA. Der Höhepunkt des Grunge ist bereits vorüber, doch in dem Kaff, in dem Craig mit seiner Familie auf dem Land lebt, hält man Kurt Cobain immer noch für einen Freak. Craig, der sein Haar länger trägt als die anderen, ist der klassische Außenseiter. Seine Eltern sind fundamentalistische Christen, jeden Abend liest Craig in der Bibel. Er lernt, seine körperlichen Bedürfnisse als Sünde zu verteufeln. Was ihn am Leben hält, ist sein Glaube an den Himmel, in dem alles besser werden wird, und das Zeichnen.

Doch dann lernt Craig im Ferienlager das Mädchen Raina kennen. Die beiden freunden sich an und bald schon merkt Craig, dass er mehr für Raina empfindet. Kurz darauf darf er sogar zwei Wochen bei Rainas Familie in Minnesota verbringen. Es werden zwei Wochen, die Craigs Leben und seine Einstellung zu vielen Dingen verändern werden. Denn Rainas Leben ist komplizierter, als er das zunächst angenommen hat – wird darin eine Beziehung zu ihm auch noch Platz haben? Thompson spart in seiner autobiographischen Graphic-Novel von der ersten Liebe nicht an intimen Einsichten. Einmal sehen wir Craig beim Masturbieren über den Briefen von Raina, das einzige Mal im letzten Schuljahr, und sein Kommentar dazu lautet nur lakonisch: "dies ist die Willensstärke, mit der einen der Glaube versieht."

Craig Thompson: Blankets (Seite 183)

"Blankets", "Decken": das Wort ist ein Teekesselchen, denn Decken sind omnipräsent in dieser wunderschönen Geschichte. Da ist jene Schneedecke, die die Landschaft Wisconsins überzieht, die Schneedecke, die die ersten Annäherungsversuche zwischen Craig und Raina mit sanften Flocken romantisiert, da sind aber auch die Decken, unter denen sich in der Kindheit Craig und sein Bruder Phil, später dann Craig und Raina eng aneinander kuscheln, wenn die Welt mit Kälte droht. Und da ist der amerikanische Quilt, den Raina für Craig näht und der ein Symbol wird für ihre Gefühle füreinander.

Thompson findet wunderschöne Bilder für diese Liebe. Wenn Raina und Craig sich küssen, dann verschmelzen ihre Münder zu einem einzigen weißen, reinen Fleck. Auch Imagination wird lebendig; wenn Craig in der Bibel liest, zeichnet ihn Thompson mitten in der Stadt Jerusalem sitzend. Aber er findet nicht weniger eindrucksvolle Bilder für die nicht vergehende Vergangenheit. Bäume aus der Kindheit wachsen wie von selbst in die Erwachsenenwelt hinein, die quietschende Kreide der Lehrerin zerrt auch zwanzig Jahre später noch an Craigs Nervenkostüm. Seit "Mouse" von Art Spiegelman hat keine Graphic Novel mehr mit solcher Einfühlsamkeit von der Erinnerung erzählt und davon, wie diese Erinnerung das spätere Leben beeinflusst. Überhaupt teilt Thompson eine Menge Kunstgriffe mit Spiegelman: Grenzen zwischen den einzelnen Tableaus verschwinden, und Gefühle werden nicht nur fühl-, sondern auch sichtbar. Als Craig Raina wieder verlassen muss (und er weiß, es ist vielleicht für immer), sehen wir den Wagen seiner Mutter, in dem er sitzt, für ein Bild lang direkt vom Parkplatz aus über eine Klippe fahren und in die Tiefe stürzen – erst im nächsten Bild sind die beiden wieder auf dem Weg nach Hause. Die wachsenden Distanz zwischen Raina und Craig zeigt Thompson, indem er sie wie Puppen an einen riesigen Diner-Tisch gegenübersetzt, so dass jede Berührung unmöglich wird.

Jeder kennt diese Situationen, jeder hat schon ähnliches erlebt, und fast 600 Seiten lang ist man vollkommen erfüllt von Sympathie für diese Figuren. Selbst die innerfamiliären Katastrophen bewahren sich eine stille Größe. Man fühlt sich beim Lesen wie Marcel Proust beim Verspeisen seiner in Lindenblütentee getränkten Brioche: Das faszinierende Gefühl von Vergangenem, das nicht vergeht, erfüllt den Bauch, und dann stellt sich diese Emotion ein, für die es im Englischen den schönen Ausdruck gibt: "the heart is sinking". Mir sank das Herz einige Male beim Lesen. Das nennt man dann wohl magisch.