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Oktober 2004
Andreas Platthaus
für satt.org


Art Spiegelman:
In the Shadows of No Towers

Pantheon Books, New York 2004

Art Spiegelman: In the Shadows of No Towers

42 S., geb.
19,95 $
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Art Spiegelman:
In the Shadows of No Towers




Autorenfoto
Art Spiegelman

Als ich Art Spiegelman in einem Lokal namens "Café Café" traf, wirkte er älter, kleiner und fülliger als erwartet, aber der 11. September war auch noch keine zwei Monate her. "Ich lebe immer noch wie am Morgen des 12. September, als sei es gerade geschehen." In New York war es damals leicht, dieses Gefühl zu haben. Einige Straßen südwestlich vom "Café Café" dampfte das Loch, das die Aufräumarbeiten hinterlassen hatten, und aus den angeschlagenen Hochhäusern zum Hudson hin bröckelten immer noch kleinere Trümmer. Spiegelman kam leicht verspätet, trotz Sonne in einem halblangen dicken Mantel, und war unrasiert – "auch das konnte ich seit dem 11. September nicht mehr". Außerdem lebte er gerade mit seiner Frau in getrennten Schlafzimmern, denn seine Paranoia gehe ihr auf den Geist, sie ertrage es nicht, daß er schon am frühen Morgen fernsehe, um das Neueste zu erfahren. "Getrennte Schlafzimmer ist ein Euphemismus dafür, daß sie in der Wohnung schläft und ich im Atelier." Erkennbar schon etwas von Woody Allen gehört, der Gute.

Damals entwickelte Spiegelman den Plan zu "In the Shadows of No Towers", doch das wußte er noch nicht. Er sprudelte über vor Berichten: Wie er seine Tochter Nadja aus der nur wenige Blocks vom World Trade Center entfernten Schule abholte und die Lehrer dort die Schüler in den Klassenräumen eingeschlossen hatten, um zu verhindern, daß sie sich außerhalb des Gebäudes in Gefahr begaben, das hatte ihn noch nicht losgelassen. Niemand habe damals begriffen, daß die Gefahr aus der Stadt selbst kommen könne, von oben aus den Wolkenkratzern. Diese neue Unsicherheit verfolge ihn mehr als alles andere, denn nun lebe er wieder auf den gepackten Koffern, die seine Eltern immer als Schicksal der Juden heraufbeschworen hätten. Im Vorwort zu der Buchausgabe seines neuesten Comics sind noch einige Trümmer der damaligen Überlegungen erhalten geblieben, doch erfreulicherweise haben auch in Spiegelmans Psyche die Aufräumarbeiten Erfolge gezeitigt.

Spiegelman schimpfte vor drei Jahren wie ein Rohrspatz – was umso überraschender war, als er das im freundlichsten Plauderton tat, mit dem Tempo und der Lakonie eines Stand-up-Comedians. Man konnte ihm stundenlang zuhören, und das habe ich gemacht: vom "Café Café" über Boomer und Spring Street durch die Straßen von Downtown bis in sein Atelier, wo er schließlich Ablenkung darin fand, mir die ersten Musikaufnahmen zu seinem Musical mit dem Arbeitstitel "The Three-Panel-Opera" vorzuspielen. Doch bevor wir ins Haus getreten waren, hatte er auf dem Bürgersteig auf die Stelle gezeigt, wo eine erkennbar geistig verwirrte russische Obdachlose seit Monaten um Geld bettelte und auch anstandslos immer wieder etwas von ihm erhalten hatte, obwohl sie immer auf Juden und Schwarze geschimpft habe. Bis die Bittstellererin wenige Tage nach den Attentaten herumgebrüllte, der Mossad trage die Verantwortung für alles. Da habe Spiegelman ihr kühl erwidert: "Hören Sie auf zu schreien, sonst halten die Leute sie für verrückt." Seitdem hat sie nichts mehr gesagt.

Dabei litt Spiegelman damals selbst auch unter Verfolgungswahn: Einerseits gebe es da Gerüchte um mehrere CIA-Angehörige unter den Insassen der entführten Flugzeuge, und einen Staatsstreich traute er den Herren in Washington allemal zu: "Die CIA hätte nichts dagegen, meine Stadt auszulöschen." Andererseits hätten die Araber auch in Amerika schon wieder die jüdische Weltverschwörung im Auge, und Salman Rushdie habe recht: Es sei ein Krieg mit dem Islam im Gange. So bastelte sich Spiegelman wieder eigenen Willen das Bild einer vom eigenen Land unterstützten Attacke auf New York als Zentrum des liberalen Lebensstils zusammen. Und da er nur wenige Tage vorher von einer kleinen Reise aus Indiana zurückgekommen war, hatte er dort wie als Bestätigung seiner These beobachten können, daß sich niemand mehr für das Schicksal New Yorks interessierte. Man könne die Stadt ruhig in Trümmer legen, ohne daß das ländliche Amerika mehr tun würde als die Sternenbanner aufziehen. Auch diese Überlegung findet sich noch in rudimentären Ansätzen im Vorwort zum aktuellen Band, doch der Verschwörung zwischen Washington und Mekka wird kein Raum mehr gegeben.



Seite aus dem besprochenen Band
Aus dem besprochenen Band

Comics wolle er nun wieder zeichnen, und an diesen Vorsatz, den Spiegelman unmittelbar nach den Attentaten faßte, hat er sich schon drei Jahre lang gehalten. Aber er hatte es schwer. Denn die ersten Angebote kamen aus Deutschland, doch sein Ehrgeiz richtete sich auf Amerika. Die Offerte der "Zeit", ohne jede redaktionelle Beschränkung einen Comic zu zeichnen, nahm er an, und das Resultat ist "In the Shadows of No Towers", eine vollkommen neuartige ästhetisch-narrative Melange aus Autobiographie, Comictheorie, Medienpastiche und Satire. Nur wollte so etwas in Amerika außer der Spiegelman eng verbundenen jüdischen Wochenzeitung "Forward" niemand drucken. Heute, etwas mehr als zwei Jahre nach Erscheinen der ersten von zehn zeitungsseitengroßen Folgen in der "Zeit" steht die als Buch erschienene vollständige Geschichte in der Bestsellerliste von Barnes and Noble, der größten Buchkette Amerikas, was Spiegelman mit immensem Triumph erfüllt.

Er hat indes für diese Buchausgabe weitaus mehr geleistet, als bloß die zehn Seiten auf dicken Karton drucken und klebebinden zu lassen. Neben dem nachdenklichen Vorwort findet sich im Anschluß an die eigentliche Erzählung eine kommentierte Dokumentation historischer Comics, die sich im ersten Fünftel des zwanzigsten Jahrhunderts dem Aufbau und vor allem dem Kollaps von Stadtarchitektur gewidmet haben: von Outcault über Winsor McCay, Feininger bis zu McManus. Alles Zeichner, von denen sich an den Atelierwänden Spiegelmans Originale finden lassen, und deren im Hinblick auf den 11. September signifikanteste Arbeiten der nimmermüde Comicforscher, der Spiegelman zeit seines Lebens gewesen ist, aus den Sammlungen von Bill Blackbeard, der Ohio State University und von Nicholson Baker herausgesucht hat. So ist um den Comic "In the Shadows of No Towers" eine repräsentative Studie zum Thema Architektur im Comic entstanden – ein Sujet, das sich seit einigen Jahren als ästhetisch wichtigste Fragestellung in der Comictheorie herausschält, weil es sofort zum Kern des Genres vorstößt, nämlich in die Seitenarchitektur.

So liefert das neue Buch Spiegelmans den seltenen Glücksfall einer Symbiose von Theorie und Praxis. Und das rare Beispiel einer Selbsttherapierung, die von Erfolg gekrönt war. Die Arbeit an "In the Shadows of No Towers" hat nicht nur Spiegelman gerettet, sondern auch seine Ehe – und vielleicht die Zukunft des gesamten Metiers. Viel geringer sollte man die Leistung dieses Buches nicht einschätzen.