Die Buchbranche in Amerika leidet, doch der „Graphic Novel“-Sektor boomt. Beim angesehenen Verlag Pantheon (Random House) erscheinen nicht nur Comic-Klassiker von Charles M. Schulz und Matt Groening und Comic-Bestseller wie „Maus“ von Art Spiegelman oder „Persepolis“ von Marjane Satrapi, sondern auch die ungewöhnlichen Werke von Comicmachern wie Charles Burns, Ben Katchor und Daniel Clowes oder den Franzosen David B. und Joann Sfar. In Deutschland sind Comics zwar immer noch ein Nischenprodukt, doch mit „Persepolis“, „Palästina“ von Joe Sacco und „Blankets“ von Craig Thompson gab es in den letzten Jahren immerhin mehrere Achtungserfolge, die die Hoffnung schüren, daß die Comicliteratur auch in Deutschland bald die verdiente Aufmerksamkeit und eine viel größere Leserschaft erhält. Ebenso nähren Projekte wie die Comicbibliothek der Bild-Zeitung und der F.A.Z. und der Manga-Boom, der ganz neue, insbesondere weibliche Leserschichten zu dem Medium führt, diese Zuversicht. Noch aber muß man neidisch Richtung Westen schauen.
Soeben erschien bei der „Houghton Mifflin Company“, einem alteingesessenen und renommierten literarischen Verlagshaus mit Sitz in Boston und New York, das 234 Seiten lange autobiographische Comicbuch „Fun Home. A Family Tragicomic“ von Alison Bechdel. In „Fun Home“ erzählt Alison Bechdel die Geschichte ihres Vaters und thematisiert in den sieben Kapiteln ihr schwieriges Verhältnis zu dem strengen und despotischen Mann, der Zeit seines Lebens versucht hat, seine Homosexualität vor seiner Familie und seiner Umgebung zu verbergen. Der belesene, mit einer zwanghaften Neigung zum Dekorieren ausgestattete Lehrer und Bestattungsunternehmer wird von einem LKW überfahren, kurz nachdem seine Frau die Scheidung verlangte und seine Tochter sich als Lesbe outete. Unfall oder Selbstmord? „Fun Home“ ist eine stellenweise detektivische Spurensuche, bei der Alison Bechdel auf höchst kunstvolle Weise ihre eigene Geschichte mit der ihres Vaters verknüpft. Sie berichtet von seinem nie stattgefundenen und ihrem geglückten Coming-Out – mit einem „kalten“, schonungslos-analytischen und dennoch mitfühlenden Blick, der viel Raum für Witz und das Tragikomische läßt. Literarische Verweise auf James Joyce, Albert Camus und den Ikarus-Mythos sowie eine Prise „Six Feet Under“ machen die Lektüre des wunderschön aufgemachten Buches zu einem intellektuellen Genuß.
Gestalterisch ist „Fun Home“ ein Meisterwerk. Seit 1983 zeichnet Alison Bechdel die inzwischen in über fünfzig Zeitungen abgedruckte Comicserie „Dykes to Watch Out For“, einen Strip über den Alltag eines lesbischen Freundeskreises, in der sie auch immer wieder gallige Kommentare zur politischen Lage unterbringt und der sich mitunter wie eine verbiesterte Version von G.B. Trudeaus genialem Strip „Doonesbury“ liest. Inzwischen liegen von „Dykes to Watch Out For“ sieben Bände auf deutsch vor – und in „Fun Home“ erkennt man den geübten, lockeren, punktgenau eingesetzten Strich der Stripzeichnerin: Angedeutet und sorgfältig zugleich zeichnet sie Blätter, Frisuren, eine Steinmauer, das Muster des Teppichs, die Handschrift des Vaters. Durch den Einsatz einer zusätzlichen blau-grau gemalten Abtönung verleiht Bechdel den Seiten eine Anmut und Eleganz, die trotz der reduzierten Mittel üppig und prachtvoll ist.
Alison Bechdel lebt im amerikanischen Bundesstaat Vermont in der Nähe der Stadt Burlington, die einen weiteren bedeutenden jungen Comicmacher beherbergt: James Kochalka. Beide Künstler sind sorgfältige Chronisten ihres Lebens und verarbeiten in ihren Werken radikal Autobiographisches. Alison Bechdels „Fun Home“ hat das Zeug zu einem Bestseller: Formal wie auch inhaltlich muß man es fortan in einem Atemzug mit „Blankets“ und „Persepolis“ nennen.