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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen





November 2007
Felix Giesa
für satt.org

Chris Ware
Meister seines Faches

Die Anzahl an Sekundärliteraturtiteln zu und über Comics hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Jedoch beschränkt sich das Wissen der meisten Comicrezipienten auf die Titel von Will Eisner und Scott McCloud sowie die Titel der Comicfachpresse (vgl. unsere Linkliste). Dabei erscheinen immer wieder fachwissenschaftliche Arbeiten die auch außerhalb vom Hochschuldiskurs gut lesbar sind und für den Comicfan viele Informationen bieten.

Daniel Raeburn: Chris Ware
Daniel Raeburn: Chris Ware
112 Seiten, $ 21.-
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Alle Abbildungen aus
dem besprochenen Band.

Daniel Raeburn: Chris Ware
Abbildung 1:
“Architektur ist gefrorene Musik!” In der Vorzeichnung zu einer Seite von Wares aktueller Serie “Building“ lässt sich veranschaulichen, was es mit dieser Äußerung auf sich hat: „storey“ für englisch Stockwerk bzw. „story“ für Geschichte stammen beide vom lateinischen „historia“ ab. Was sowohl Bild als auch Stockwerk bedeuten konnte.


Daniel Raeburn: Chris Ware
Abbildung 2:
Anfang der 1990er Jahre musste sich Ware auch als Maler verdingen.


Daniel Raeburn: Chris Ware
Abbildung 3:
„Don’t just draw Comics!“ Diese Figur der Quimbies ist voll funktionsfähig und zeigt welches Geschick Ware auch als Handwerker besitzt.


Daniel Raeburn: Chris Ware
Abbildung 4:
Die Schwierigkeit in Comics besteht darin, dass eine Umgebung immer wieder aus anderen Blickwinkeln auftauchen kann. Um den Überblick zu behalten, hat Ware ein Diorama von Jimmys Elternhaus gebaut.

Chris Ware gehört zu einem der innovativsten Comicschaffenden der vergangenen fünfzehn Jahre. Seine zentrale Arbeit, der Comic „Jimmy Corrigan – The smartest Kid on Earth“, erhielt 2001 mit dem Guardian First Book Award als erster Comic einen Preis als bestes Buch. („Maus“ von Art Spiegelmann erhielt zwar schon davor einen Pulitzer Preis, jedoch handelte es sich dabei um einen „Spezial Preis“. Der Comic wurde also nicht im direkten Vergleich mit Büchern ausgezeichnet.) Das hier nun zu besprechende Buch von Daniel Raeburn ist zwar bereits aus dem Jahr 2004, aber da Chris Ware in Deutschland bisher kaum rezipiert wurde, scheint eine Besprechung dieses „Comic Genies“ und seiner Arbeit in jedem Fall lohnend. Für seine Ausführungen hat Raeburn Chris Ware ausführlich interviewt und reichlich Bildmaterial aus dem Ware’schen Archiv erhalten. Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile: Im ersten werden die Informationen aus dem Interview dargestellt und die Person Ware näher gebracht, indem der Autor Chris Ware viel selber sprechen lässt. Im zweiten, inhaltlich größerem, Teil analysiert Raeburn in einer gekonnt exakten Lektüre die umfangreichen Bildquellen.


Das beeindruckende an Wares Werk ist neben der emotionalen Eindringlichkeit des Erzählten vor allem die formale Art und Weise, in der er seine Comicstrips gestaltet. Raeburn stellt dar, dass das Erzählen in Bildern einer Sprache entspricht und die Form der Verwendung und des Seitenlayouts entspricht „einer visuellen Grammatik“ (S. 11). Um sich dieser Grammatik zu nähern folgte Ware dem Spiegelmann’schen Diktum „Die Zukunft der Comics liegt in ihrer Vergangenheit.“ (S. 9) So wurde er zu einem Sammler und später auch Herausgeber früher Comicstrips aus den 1920er und 1930er Jahren. Später kam es durch die Etablierung des „action genres“ und der damit einhergehenden Orientierung am ebenfalls noch jungen Medium Film zu einem qualitativen Verfall. Die Qualität dieser frühen Arbeiten liegt nach Ware darin, dass der Comic noch so neu war, dass er sich keinen Regeln und Einschränkungen unterworfen sah. Jeder Comicschaffende konnte seine eigene Vorstellung verwirklichen. Aus diesen, großteils in Vergessenheit geratenen, Quellen hat Ware „schamlos geklaut“ (S. 13), wie er scherzhaft behauptet. Anhand eines „Polly and Her Pals“-Strips von Cliff Sterret und eines „Gasoline Alley“-Strips von Frank King (hier ein Bild plus Bildunterschrift) veranschaulicht Raeburn diesen formalen Diebstahl: Die Möglichkeiten das Layout einer ganzen Seite für den Inhalt der Geschichte nutzbar zu machen. Der französische Comicexperte Benoît Peeters hat dafür vor einigen Jahren bereits den Begriff des ,tabulaire’ eingeführt, also eines ,tabellarischen’ Seitenaufbaus.

Ware fasst Comics als Kunstform analog zur Literatur, Graphik, Malerei, Typographie, Musik, Theater und Architektur auf und versucht sie auf der Seite zu verbinden. Das Ware sich damit der franko-belgischen Auffassung des Comics als ,Neunte Kunst’ nähert, bleibt Raeburn als Amerikaner allerdings verborgen. Diese Erkenntnis und die Widersprüchlichkeit, welche in letzter Konsequenz daraus folgt, zu akzeptieren und daraus fruchtbare Konsequenzen zu ziehen, hat sich Ware zur Aufgabe genommen. So fasst er zusammen, dass Comics aus Wort und Bild bestehen und somit beides zugleich sind. Und dadurch eben keins von beidem (S. 17). Er meint damit den Unterschied zwischen „sehen“ und „lesen“: der Comicrezipient liest nicht nur den schriftlichen Anteil des Comics, sondern eben auch den graphischen Aufbau und ebenso sieht er nicht nur das bildliche des Panelinhalts, sondern er sieht auch Schrift auf der Comicseite. Um sich diesem Tatbestand zu nähern verzichtete er anfangs erst einmal vollständig auf Text und schuf nur Pantomimenstrips. So gelang es ihm, seine Bilder wie Worte wirken zu lassen.


Doch wozu dienen Ware all diese Erkenntnisse? Das Hauptanliegen in seinen Comics sieht er darin, „Emotionen zu erzeugen“ (S. 18). Er erreicht dies durch einen reduzierten Stil, seine Figuren gleichen „Ideogrammen“. (Hier zeigt sich Ware als Schüler McClouds, der in „Comics richtig lesen“ zum Cartoonbegriff die „Betonung durch Vereinfachung“ ausführt, dass „durch die Reduktion eines Bildes auf seine wesentliche ,Information’ [ …] der Zeichner diese Information in einer Weise hervorheben [kann], wie es der naturalistischen Kunst nicht möglich ist.“ (38:5).) Realistische Zeichnungen „schaffen eine Wand, welche die Empathie des Lesers blockiert“ (ebd.). Die Figuren deren Geschichten Chris Ware erzählt, beginnen alle als Karikaturen seiner selbst. Mit der Zeit jedoch beginnt ein Selbstreflexionsprozess, so berichtet Raeburn, der Ware dazu bringt seine Figuren als Charakterstudie weiterzuführen. So sind die Ähnlichkeiten zwischen Jimmy Corrigan und seinem kreativen Vater frappierend. Ware war ebenfalls der Nerd, der von seinen Mitschülern gequält wurde. Sein Vater hat ebenfalls die Familie früh verlassen und genauso wie Jimmy hat auch Chris Ware diesen als Erwachsener das erste (und in seinem Fall auch das einzige) Mal getroffen.


„Don’t just draw Comics“ ist eine fundamentale Forderung, die Ware an sich selbst stellt. Raeburn führt aus, dass dadurch, dass Ware sich ebenfalls mit Malerei (Abbildung 2) und dem Handwerklichen, wie dem Herstellen von Figuren (Abbildung 3), Dioramen und Modellen beschäftigt hat, seine Comics bereichern konnte. Zusätzlich hat diese Beschäftigung jedoch auch sein Verständnis von Comics erweitert, diese müssen aus dem einengenden Rahmen befreit werden und eben auch in dem Kontext zum Beispiel des Figürlichen begriffen werden. In diesen Zusammenhang sieht Raeburn auch Wares Beschäftigung mit Musik. Er zieht so eine strukturelle Parallele zwischen Comics und Wares Vorliebe zu Ragtime. Ware erkannte, dass Emotionen im Ragtime nicht durch die Performance, sondern bereits durch die Komposition erzeugt werden. „Ragtime ist eine Musik der Komposition und Comics sind eine Kunst der Komposition“ (S. 25). Spielt man eine Musik Note für Note erweckt man eben diese Musik zum Leben, genau dasselbe passiert Ware zu Folge, wenn man einen Comic Panel für Panel liest.


Dieser knappen Abhandlung folgt ein umfangreicher Bildteil mit 100, teilweise an dieser Stelle erstveröffentlichten, Abbildungen. Hier hätte zu Gunsten von bisher unveröffentlichtem Material auf den Abdruck einer Vielzahl von Covern verzichtet werden können. Das Besondere liegt hierbei nicht nur in Qualität der Abbildungen, die keinen Vergleich mit einem Katalog des Hatje Cantz-Verlags scheuen müssen. Es sind vielmehr die Bildkommentare und –analysen, die Raeburn den jeweiligen Bildern zukommen lässt. Hierbei nimmt er häufig eine Rückbindung an das vorige Interview vor und kann so die Bilder für den Leser in einen vollkommen neuen Kontext einordnen. Etwa die Szene aus Jimmy Corrigan, in der Jimmy gerade seinen Vater wieder trifft und ihn in Gedanken mit einem Bierglas erschlägt. Ware gibt zu, dass ihm während der einzigen Begegnung mit seinem Vater ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. Für den Leser überraschend dürften auch die Frühwerke aus seinem Schaffen sein, als er seine künstlerische Ausbildung erfuhr. Realistische Skizzen und cartooneske Aquarelle sind so vollkommen unterschiedlich von den reduzierten Comicfiguren der „Acme Novelty Library“. Gleiches gilt für Ausschnitte aus seinem Sketchbuch, zu denen er durch die Sketchbücher Robert Crumbs angeregt wurde. Teilweise nur als Skizzen, aber auch aquarelliert zeigt sich die künstlerische Vielfalt Wares.

Überraschend sind die voll funktionsfähigen Figuren, welche er nach Vorbildern seiner Cartoons geschaffen hat, wie zum Beispiel die siamesischen Zwillinge in „Quimby the Mouse“ (Abbildung 3). Ein anderes Modell illustriert die Akribie, mit der Ware an seine Arbeit herangeht. Um während der Erzählung der Geschehnisse auf dem Grundstück der Corrigans nicht den Überblick zu verlieren, hat er ein Modell desselben angefertigt (Abbildung 4).


Abschließend lässt sich vermerken, dass solche (wissenschaftlichen) Auseinandersetzungen mit dem Werk eines Comickünstlers durchaus wünschenswert sind und teilweise auch noch dringend notwendig sind. Kleiner Wehrmutstropfen in der vorliegenden Umsetzung ist, dass auf lediglich knapp zwanzig Seiten einige biographische und comicspezifische Fakten mit dem Werk Wares verknüpft werden. Eine umfangreiche Analyse einzelner Werke Wares wäre hier wünschenswert gewesen und hätte zur Würdigung dieses Comicmeisters ungemein beigetragen. So kurz und prägnant die Bildkommentare auch sein mögen, sind sie jedoch nur genau das – kurz. Unterscheiden tut sich diese Arbeit dann auch nur durch den bereits erwähnten Bildteil von z. B. den Portfolios der „Reddition“. Und diese Einschätzung ist durchaus positiv zu sehen. Denn lohnen tut sich der Band für Comicbegeisterte auf jeden Fall, da er einen guten Querschnitt durch das Schaffen Chris Wares zieht und mit einem Preis von € 12,- durchaus erschwinglich ist.


Daniel Raeburn: Chris Ware
London: Laurence King Publishing 2004. (Erstauflage.)
New Haven: Yale University Press 2004. (Hier besprochene Auflage.)
112 S., $ 21,-.