Invisibles
Revolution gefällig?
Wahrheit wird selten als rares Gut angesehen. Denn immerhin glaubt sich jeder im Besitz von mindestens einer Wahrheit. Dabei leben wir in Zeiten des Zweifelns: Medienhysterie folgt auf Medienhysterie, und nicht nur das Internet verbreitet täglich tausende mehr oder weniger abstruser Geschichten, von denen ein paar sogar wahr sein könnten. Das Wahrscheinliche vom Unwahrscheinlichen zu trennen, ist eine der höchsten Künste der Neuzeit.
Grant Morrison dreht in seiner Meta-Saga von den „Invisibles“ den Spieß einfach um. Und er tut das nicht elegant, sondern mit brutaler, niederwälzender Wucht. In der Welt der Invisibles, die im Grunde unsere eigene ist, stimmt jede Verschwörungstheorie, jeder Internet-Tratsch. Es gibt groß angelegte Konspirationen, gelenkt von Außerirdischen, um die Weltherschaft zu erringen. Es gibt Gegen- und Gegen-Gegenverschwörungen. Japanische Firmen schalten ihre Angestellten mittels Strahlung gleich und Parlamentssitzungen sind in Wahrheit gigantische okkulte Orgien. In der Ballung und in den Widersprüchen, die sich daraus ergeben, ist „Invisibles“ auch eine Satire auf den Verschwörungswahn. Wo alles wahr ist, ist am Ende gar nichts mehr wahr.
Mehr oder weniger folgt die gesamte Serie einer Zelle des Widerstandsnetzwerkes der Invisibles, der „Unsichtbaren“, die gegen alle diese Verschwörungen antreten. Oder sind sie doch nur Teil des Systems? Wer Freund und wer Feind ist in dieser ultimativen Verschwörungs-Saga, wird in den seltensten Fällen klar. Philip K. Dick jedenfalls hätte seine Freude gehabt am permanenten Umstoßen der als gegeben angenommenen Tatsachen.
Das klingt zuerst einmal sehr verwirrend. Und ohne wenigstens grundlegende Kenntnisse abseitigen Wissens – von Marquis de Sade bis zu Hindu-Mythologie – kommt man gelegentlich nur schwer durch das Erzählte: Morrison stopft die Seiten voll mit Zitaten und Anspielungen.
Aber „Invisibles“ ist kein Avantgarde-Comic. Dafür mag Morrison, der der gleichen englischen Comicschule entstammt wie Garth Ennis und Warren Ellis, eine deftige Geschichte viel zu sehr. Es kracht und knallt gewaltig hier, Sex- und Blacksploitation, Liebe, Drama und Humor. „Als ich klein war, wollte ich in einer 60er-Agentenserie leben, wenn ich groß bin“, sagt King Mob, einer der Invisibles und zugleich Alter Ego von Morrison. „Komisch, wie manches wahr wird.“
Erst zum Schluß der Serie hin verliert Morrison den Faden – das Finale der „Invisibles“ dürfte bis heute niemand außer dem Autor selbst verstanden haben. Bis dahin aber ist diese Serie ein wunderbarer Höllenritt und einer der wenigen wirklich guten US-Comics der 90er Jahre.
Grant Morrison:
Invisibles Bd. 1
(mit Steve Yeowell, Jill Thompson,
Dennis Cramer, Chris Weston u. a.)
Panini, 324 S.; € 28,00
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