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26. August 2008
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Felix Giesa
für satt.org |
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Ein neues LandGleich vor ab: „Ein neues Land“ ist ein tolles Buch, ganz egal ob man es Bilderbuch, Comic oder Graphic Novel nennen will. Und mit dieser Bemerkung ist man auch schon mittendrin, in Shaun Tans Werk über einen Immigranten. Der Illustrator macht nämlich, nach seiner Selbsteinschätzung, Bilderbücher, bedient sich dabei aber Erzählstrategien des Comics und die Verlage nennen es eine Graphic Novel. Aber letztendlich ist jegliche Kategorisierung sowieso hinfällig, da „The Arrival“, so der Originaltitel, einfach eine tolle Geschichte erzählt. Und das tut sie ohne die Verwendung von Worten, nur mit der indexikalischen Kraft ihrer Bilder. Ein Mann verlässt seine Familie. Zusammen lebten sie bisher in einem Land, das einer großen Gefahr ausgesetzt ist, was sich auf der Seite als riesige, zackige Tentakel zwischen den Häusern abzeichnet. Ganz offensichtlich flieht der Mann vor dieser Situation (und nicht etwa verreist er, wie der Klappentext behauptet). Und zwar im Einvernehmen mit seiner Familie, soviel verraten die Bilder. Was folgt, spiegelt sicherlich nach wie vor den Alltag der meisten Flüchtlinge und Migranten: eine lange Schifffahrt unter beschwerlichen Bedingungen und die Ankunft in einem wortwörtlich wildfremden Land. Doch bevor man richtig rein darf, ins neue Land, muss man sich einer langen Untersuchungsprozedur unterziehen. Danach ist der Mann endlich da. Doch nur wo, scheint er sich zu denken, ist er da gelandet?! Riesige Türme, unerklärbare, mit Symbolen überhäufte Kreise, rauchende Schlote und komische, himmelshohe Skulpturen beherrschen die Szenerie. Shaun Tan, selber Australier mit malaysischen Wurzeln, schafft in seinen Bildern eine eindringliche ikonische Allegorie auf die Reizüberflutung, die Neuankömmlinge in einer technisch weiterentwickelten Welt erleben und aufgrund mangelnder Erfahrungen nicht dekodieren können. Das einem alles dann wie in Tans phantastischen Gebilden vorkommt, ist nur zu gut nachvollziehbar. Tans Bilder erscheinen wie Fotos und die Aufmachung des gesamten Bandes unterstützt diese Erscheinung noch, sodass man tatsächlich das Gefühl hat, als durchblättere man das Fotoalbum einer Migrantenfamilie. Die schwarz-weißen fotorealistischen Graphitstiftzeichnungen wurden am Rechner lediglich nachträglich mit Weichfiltern überzogen und stellenweise wurden Sepiafarbtöne eingefügt, um einen Effekt vergilbter Fotos zu erzeugen. Dabei ist die Blickführung der Bilder und deren Aufteilung das Spannende an „Ein neues Land“. Mal sieht man den Protagonisten selbst agieren, mal werden Schnappschussmomente seiner Streifzüge durch die neue Umgebung aneinandergereiht. Bei den gezeichneten Fotos handelt es sich in der Tat häufig sogar um abgezeichnete Fotos oder auch historische Gemälde, wodurch Tan ein interpiktorales Zitatspiel besonderer Güte schafft. Etwa wenn er das Bild des Zeitungsjungen umwandelt, der im Original die Sonderausgabe zum Untergang der Titanic verkaufte, oder Gustave Dorés „Over London by Rail“ in der Geschichte einer anderen Immigrantin, die von ihrer Flucht berichtet, zitiert. Einen Teil seiner Zitate verrät der Autor in einem Nachwort, der Rest stellt ein zu entwirrendes Vexierspiel dar. Solchen Bildern folgen wieder Sequenzen, in denen das Geschehen exakt, in McCloud’scher Wortwahl „von-Augenblick-zu-Augenblick“, geschildert wird, nur um dann am Ende einer Doppelseite in einem großen Einzel-Panel zu enden. Wie etwa, wenn der Mann in einem Hotel eincheckt – und von der Beschaffenheit des Zimmers doch etwas überrascht ist. Auf seinen Wanderungen durch die noch fremde Stadt trifft er immer wieder andere, die sein Schicksal teilen und deren Erlebnisse der Zeichner, auf andersfarbigem Papier als fremde Erinnerung markiert, ebenfalls abbildet. Wie etwa den Bericht der Händlersfamilie, die vor riesigen Monstern mit Staubsaugern, welche die Menschen des Landes aufsaugen, flohen. Oder der alte Mann, der als jugendlicher Soldat begeistert gegen den Feind zog und gerade so mit nur einem Bein den Leichenbergen entkam. Der Weg wird dabei mit Blick auf die Stiefel des Soldaten geschildert, ein bedrückender Verweis auf „Im Westen nichts Neues“, wenn dort ein Paar Stiefel immer wieder den Besitzer wechselt. Den Alten lernt er in einer Fabrik kennen, in welcher er Arbeit findet, nachdem er vorher in mehreren Jobs wegen mangelnder Lesekompetenz der neuen Sprache gescheitert war. Schlussendlich gewöhnt er sich nach seiner „Ankunft“ also ein und bereits nach einem Jahr kann seine Familie nachkommen. In den abschließenden Bildern folgt man der Tochter, die sich schnell eingelebt hat und so die glückliche Immigration versinnbildlicht. Man wird Shaun Tan vorwerfen können, dass sein Comic die Probleme der heutigen Migration nicht thematisiert; Tans Heimatland ist schließlich auch nicht wirklich für die Gastfreundschaft, die es seinen Immigranten entgegenbringt, bekannt. Vielmehr ist ein nostalgisch anmutender Blick auf die Auswanderungsströme der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Allerdings muss man trotz der Richtigkeit dieses Vorwurfes bedenken, dass die Probleme’ der weltweiten Migration bereits unzählige Male thematisiert wurden – ohne, dass sich bisher das Geringste geändert hätte. Da ist Shaun Tans Geschichte eines Immigranten doch vielleicht als ein Appell an beide betroffenen Positionen zu lesen: an die aufnehmende Gesellschaft und an die einwandernde. Den einen würde eine weltoffenere Gastfreundschaft gut zu Gesichte stehen und den anderen der begeisterungsfähige Blick auf das Neue in der neuen Heimat. Dann gelingt die Migration vielleicht auch so reibungslos wie in der Tan’schen Welt.
Shaun Tan: Ein neues Land Abbildungen aus Ein neues Land: Moderne Industrie durch die Augen eines nicht technisch sozialisierten Menschen: Shaun Tan entwirft eine allegorische Bildsprache für Immigranten. Tan setzt die Erzählstrategien des Comics geschickt ein. Dieser Seite geht eine Seite mit zwölf kleinen Ausschnitten, wie hier den drei oberen, voran. Geschickt baut er dadurch Spannung auf, wodurch die Überraschung über die Beschaffenheit des Zimmers umso größer ist. Die Kritik am totalitären Staat, besonders in Ländern des ehemaligen Ostblocks, realisiert Tan in diesem Erinnerungsbild eines anderen Migranten durch eine kubistische Architektur. |
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