Jiro Taniguchi:
Die Sicht der Dinge
Mit gesenktem Kopf sitzt Jiro Taniguchi konzentriert am Arbeitstisch seines kleinen, engen Ateliers in einem Vorort Tokios, umgeben von prall gefüllten Bücherregalen, die bis unter die Decke reichen. Nur das Kratzen der Tuschefeder auf weißem Papier ist „zu hören“, die Strich für Strich ein neues Bild entstehen lässt. Taniguchi lässt sich Zeit bei seiner Arbeit. Nur knapp 40 Seiten zeichnet er heute noch monatlich. Für einen Manga-Zeichner durchaus nicht viel. Oft sind es 100 oder gar 200 Seiten, die für die wöchentlich erscheinenden Serien produziert werden müssen. Doch der renommierte Mangaka Taniguchi ist eine Ausnahme in der allzu oft actiongeladenen und rasend schnellen Manga-Welt – sowohl was sein Arbeitstempo anbelangt, als auch im Hinblick auf seinen Stil und die Art seiner Erzählungen.
In seiner langen Karriere als Künstler, die schon Anfang der 1970er Jahre begann, hat er zwar schon viele der zahlreichen Manga-Genres (so etwa Krimi, Science Fiction und Western) bedient, Aufmerksamkeit in Europa erhielt er jedoch erst, als er damit anfing, seinen Geschichten eine persönliche Note zu verleihen. So erzählt er aus dem Alltag und zeichnet seine Geschichten durch einen sehr persönlichen Charakter und ein ruhiges Erzähltempo aus. Ein Erzähltempo, das einen Gegensatz zur hektischen japanischen Alltagswelt (vor allem auch des üblichen Tempos der Mangas) darstellt. Gefühle werden hier nicht, wie so oft in Mangas, plakativ dargestellt, damit sie visuell rasch aufgenommen und schnell verstanden werden können. Es sind leise, subtile Zwischentöne, die sich in Jiro Taniguchis Mangas langsam und behutsam entwickeln und Emotionalität entstehen lassen.
So zählt der Tokioter Zeichner in der japanischen Manga-Szene zweifelsohne zu den „europäischsten“ Vertretern seines Fachs, was allerdings nicht ausschließlich das Resultat seines ungewöhnlichen Erzählstils ist, sondern ebenso aus seiner Art des Zeichnens resultiert. Er sei besonders in den Anfangszeiten seiner Karriere sehr von den frankophonen bande dessinées beeinflusst worden, äußert er immer wieder in Interviews. Und dies spiegelt sich deutlich in seinem Zeichenstil wider, der zwar, wie aus Mangas gewohnt, durch einen äußert großen Realismus und Detailtreue besticht, aber dennoch gleichzeitig sehr klar und übersichtlich wirkt.
Sein europäisch beeinflusster Stil, verbunden mit der intimen Art der Alltagserzählungen, verhalf ihm in den letzten Jahren zu einer breiten Popularität in der französischen Comic-Szene, auch abseits des Manga. So wurde er 2003 beim Internationalen Comic-Festival in Angoulême für „Vertraute Fremde“ als bester Szenerist ausgezeichnet und erhielt zwei Jahre später für „Gipfel der Götter“ den Preis für die beste Zeichnung. Während nunmehr in Frankreich schon einige Titel seines Œuvres veröffentlicht wurden, dauerte es hierzulande noch einige Zeit, bis die Comic-Verlage auf ihn aufmerksam wurden und sich seinem Werk widmeten. Vor kurzem jedoch erschienen im Sublabel shodoku von Schreiber & Leser und bei Carlsen gleich mehrere seiner Mangas, so unter anderem die in Angoulême ausgezeichneten Titel.
Mit „Die Sicht der Dinge“ liegt nun abermals eine der ganz intimen Alltagsgeschichten Taniguchis vor, in der er die Erfahrungen seiner Jugend mit der fiktiven Erzählung um den Protagonisten Yoichi verwebt. Taniguchi versucht darin den abstrakten inneren Konflikt eines Sohnes aufzuzeigen, der seit seiner Jugend Groll gegen den Vater hegt.
Schon 15 Jahre hat Yoichi sein Elternhaus in Tottori, einer Stadt am Meer, nicht mehr besucht. In der Vergangenheit leistete das Argument der eigenen Unabkömmlichkeit bei der Arbeit in einer Design-Agentur immer wieder Vorschub, um nicht nach Hause zu fahren. Und so wurden die Bande zu Familie und Heimat langsam immer dünner. Doch als Yoichi die Nachricht erhält, das sein Vater gestorben ist, ist schließlich der Zeitpunkt gekommen, um sich nach langer Zeit der eigenen Geschichte und Identität zu stellen. Hauptschauplatz ist dabei die Totenwache für den Verstorbenen, die traditionell von Familie und Freunden in der Nacht vor der Kremation des Leichnams abgehalten wird. Als dabei alle zusammensitzen, werden Geschichten erzählt, und Yoichi lernt seinen Vater durch die Augen seiner Mitmenschen neu kennen. Verblasste Erinnerungen werden in Rückblenden wieder lebendig und die Gespräche zeigen Yoichi eine andere ,Sicht der Dinge' – eine neue Sicht auf seinen Vater. So nähert er sich allmählich dessen Geschichte und seinen eigenen Kindheits- und Jugenderfahrungen.
Ebenso wie der Protagonist Yoichi, hat auch Jiro Taniguchi selbst seinen Heimatort 15 Jahre lang nicht besucht. Auch sein Verhältnis zu Familie und Heimat ist kein unbelastetes, und so schwingt in der Erzählung stets etwas Autobiographisches mit. Im einem persönlichen Nachwort des Autors wird dies weiter deutlich, wenn er den Manga seinen Eltern widmet und sie um Verzeihung für seinen kindlichen Ungehorsam bittet.
„Die Sicht der Dinge“ ist eine bewegende und bemerkenswert sensibel erzählte Geschichte über den inneren Konflikt Yoichis und seiner Suche nach Heimat, Verständnis und Identität. Und ebenso ist es eine Geschichte, die uns das Verhältnis von Tradition und Moderne im heutigen Japan vor Augen führt. Nach „Vertraute Fremde“ ist „Die Sicht der Dinge“ ganz ohne Zweifel ein weiteres Meisterwerk aus der Feder Jiro Taniguchis, sicherlich auch für Leser, die der japanischen Spielart des Comics sonst eher weniger zugeneigt sind. Unterstützt wird diese Einschätzung zusätzlich durch die Tatsache, dass der Band in westlicher Leserichtung erscheint und in der Graphic Novel-Sparte herausgegeben wird.
Jiro Taniguchi: Die Sicht der Dinge
Carlsen 2008, 283 S., s/w, Paperback, € 14
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