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2. Oktober 2008
Stefan Pannor
für satt.org

Adrian Tomine: Halbe Wahrheiten

Adrian Tomine:
Halbe Wahrheiten

Möglicherweise bedeutet es wirklich etwas, 30 zu sein. Man ist nicht mehr jung. Man ist zwar auch noch nicht alt, aber immerhin lauert zwei Ecken weiter schon die Midlife-Crisis. Man realisiert, dass man ein gutes Stück Leben hinter sich gebracht hat. Und auch, was man in dieser Zeit geschafft oder nicht geschafft hat.

Möglicherweise kommt es einem aber auch nur so bedeutsam vor, weil man noch nicht 40 ist.

Ben Tanaka, 30, Hauptfigur in Adriane Tomines „Halbe Wahrheiten“, realisiert die Bedeutung seines Alters nicht. Für den von Komplexen zerfressenen Asiaten läuft das Leben in einem lausigen Trott: eine grade noch so funktionierende Beziehung, die nur um der Vertrautheit willen aufrecht erhalten wird, ein bedeutungsloser Job als Manager eines Kinos und viele belanglose Abende vor dem Fernseher. Die Dinge ändern sich erst, als sich sowohl eine Angestellte seines Kinos für ihn zu interessieren beginnt als auch seine Freundin ihn stillschweigend verläßt. Was wie eine Möglichkeit wirkt, das Leben zu ändern, erweist sich für Tanaka schnell als Gelegenheit, noch tiefer in die selbstzerstörerische Misere seines Daseins hineinzurutschen.

Tomine hat sich in den vergangenen Jahren als Beobachter des Alltags vor allem mit grafischen Novellen und Kurzgeschichten einen Namen gemacht. Sein Output ist minimal, aber dank ihrer unglaublichen grafischen Klarheit und erzählerischen Intensität von kaum zu unterschätzender Wirkung auf den nordamerikanischen Independent-Comic. „Halbe Wahrheiten“ ist sein erstes romanlanges Werk, annähernd drei mal so lang wie die längste seiner Kurzgeschichten bisher.

Und das ist vielleicht die Achillesferse des Buches. Denn gerade Tomines Stärke, die konzentrierte, sachliche und nichtsdestotrotz ergreifende Darstellung der Gefühle seiner Protagonisten taucht in diesem Band stets nur gelegentlich auf, um dann immer wieder vom zwingend nötigen Erzählfluss eines längeren Werkes zerrissen zu werden. Tomines Beobachtungen über das Scheitern eines Lebensentwurfes sind von erschütternder Klarheit, aber leider mangelt es ihnen an Konzentration. Die besten Momente dieses Buches, wenn Ben seine Einsamkeit realisiert oder eine Affäre ihn sitzen lässt mit den Worten „Du würdest den wahren Grund nicht verkraften“, treffen mit unglaublicher Zielsicherheit. Andere Sequenzen in diesem Buch wirken, als würden sie nur die Lücken zwischen diesen Höhepunkten füllen.

Tomine hat das Glück oder das Pech, mit seinen vorherigen Comics die Meßlatte für die Bewertung seiner Bücher unglaublich hoch gelegt zu haben. „Perfekter als 'Halbe Wahrheiten' kann ein Comic nicht sein“, behauptet immerhin Jonathan Lethem auf dem Cover der deutschen Ausgabe. Angesichts von Tomines vorherigen Werken kann man ihm da leider nicht ganz zustimmen.



Adrian Tomine:
Halbe Wahrheiten

Reprodukt 2008
112 S.; 13,00 €
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