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27. November 2008
Christopher Pramstaller
für satt.org

Kiriko Nananan: Liebe und andere Lügengeschichten

Kiriko Nananan:
Liebe und andere Lügengeschichten

Eine junge Frau verkauft ihren Körper an reiche Männer. Sie will sich Kleider, eine Wohnung und Spaß leisten. Yuka, ihre Freundin, versteht das nicht. Für sie hat Sex etwas mit Liebe zu tun. Nach einer Unterhaltung der beiden geht Yukas Freundin abermals auf den Strich. Doch es soll das letzte Mal sein. Nach dem Gespräch mit Yuka hat sich für sie irgendetwas verändert. Nie mehr will sie an den Ort zurückkehren, an dem sie sich für klebrigen, schmierigen Sex verkauft hat.

Das ist die Handlung einer der 23 Kurzgeschichten, die Kiriko Nananan in „Liebe und andere Lügengeschichten“ zusammengetragen hat. Teilweise sind die Geschichten so außergewöhnlich wie jene von Yukas Freundin, manchmal aber auch ganz alltäglich – wenn z. B. eine junge Frau versucht, den Duft einer alten Liebe wiederzufinden. Allen gemeinsam ist, dass sie von Beziehungsgeschichten aus dem heutigen Japan erzählen. Sie handeln von Eifersucht, Liebe und Sehnsucht, den uralten und ewig neuen Problemen.

Egal mit welchem Medium sich ein Künstler auseinandersetzt - beim Thema Liebe geht er oder sie immer ein großes Risiko ein. Gerade hier bestimmen Klischee und Kitsch nur allzu schnell den Grundton der Erzählung. Den Leser befällt bei keinem Thema leichter das Gefühl, das alles doch sowieso schon einmal gesehen, gehört oder gelesen zu haben. Doch so groß diese Gefahr ist, Kiriko Nananan meistert sie gekonnt. In „Liebe und andere Lügengeschichten“ sind es nicht die sonst so oft üblichen Happy-Ends, welche die Geschichten bestimmen und lesenswert machen. Es ist der Realismus, mit dem sie ihre (meist weiblichen) Figuren zeichnet und die Härte der Gefühlswelt, welche die Mangaka für die Protagonistinnen bereithält. Dabei ist der gefühlte Realismus keineswegs Zufall. Die erzählerische Grundlage der Geschichten sind Nananans eigene, ganz persönliche Gefühle. „Wenn ich Liebeskummer habe und weine, dann kommen mir bestimmte Sätze in den Sinn und die verwende ich dann später in meinen Geschichten. Ich schreibe sie auf - und heule weiter. Das ist dann nacktes Gefühl, pure Emotion“, so Nananan in einem Interview mit arte. Wenn sie sich anschließend mit diesen Sätzen auseinandersetzt, überlegt sie sich, wie die Frauen aussehen könnten, von denen solche Worte stammen und in welche Handlung sie diese einbauen kann. So entwickeln sich die 23 Kurzgeschichten in „Liebe und andere Lügengeschichten“ jeweils ganz eigenständig. Stets liegt ihnen eine individuelle Stimmung zugrunde, die von Nananan gekonnt aufgebaut und inszeniert wird. Mit viel Humor und reflektiert erzählt, nie mit dem moralischen Zeigefinger. Entgegen den ungeschriebenen Regeln für Shojo-Manga (Manga für Mädchen), in denen die Protagonistinnen vernünftig und moralisch ansprechend präsentiert werden sollen (Sex ist hier ein Tabuthema), denkt sie gar nicht daran, sich an diese Regeln zu halten. Thematisch schließt sie so den Kreis, den Romanautoren wie Banana Yoshimoto und Haruki Murakami begonnen haben, als sie begonnen, sich erzählerisch dem Manga zu nähern. Nananan griff diese Stimmung auf und übersetzt sie kongenial in Mangaform.

Kiriko Nananan: Liebe und andere Lügengeschichten
Kiriko Nananan zeichnet mit kunstvoll-minimalistischem, aber dennoch sehr ausdrucksstarkem Strich.

Kiriko Nananan, 1972 in Niigata, Japan geboren, zählt zu den bedeutendsten Zeichnerinnen von Josei-Manga (Manga für erwachsene Frauen). Nach „blue“ (dt. 2006) ist „Liebe und andere Lügengeschichten“ ihr zweites Werk, das nun auf Deutsch erschienen ist. Ihr Stil ist dabei allerdings recht untypisch für eine japanische Zeichnerin. Nananan zählt zur Nouvelle Manga-Bewegung, einer Stilrichtung, die sich Ende der 1990er Jahre in Japan herausgebildet hat (ihre bisher auf Deutsch erhältlichen Geschichten stammen genau aus dieser Zeit). Mit dem Label „Nouvelle Manga“ sollten Werke bezeichnet werden, die den japanischen Leser an die Zeichentradition der franco-belgischen bandes dessinées erinnen. Mittlerweile hat sich aus dieser Schule ein Netzwerk aus Autoren, Verlagen und Lesern gebildet, das sich zum Ziel gesetzt hat, gezeichnete Bildergeschichten als universelles Medium wahrzunehmen und den Werken verschiedener Künstler eine internationale Plattform zu bieten.

Kiriko Nananan: Liebe und andere Lügengeschichten
Wort und Bild bilden in ihrem Werk ein wunderbares Zusammenspiel als vollkommen gleichberechtigte Elemente.

Der starke zeichnerische Einfluss des Comics westlicher Machart auf Nananans Arbeit ist daher wenig überraschend. Harte Kontraste bestimmen ihr ausdruckstarkes Bild. Schraffuren und Grautöne sind kaum auszumachen. Nananan arbeitet fast ausschließlich mit Schwarz und Weiß. Ihr Strich ist dabei minimalistisch, fast bis ins Äußerste reduziert. Teilweise zeichnet sie in den einzelnen Panels nur einige wenige, dünne schwarze Striche vor weißem Hintergrund. Doch diese Striche haben derart viel Charakter und Ausdruck, dass sie vor den großen weißen Hintergründen nie verloren gehen. Raum im Bild spielt dabei für Nananan eine sehr wichtige Rolle, denn „dieser Leerraum drückt Gefühle aus, die man mit Worten nicht beschreiben kann“.

So künstlerisch wie ihr Duktus, so kreativ ist auch ihr Umgang mit Perspektive, Bild und Sprache. Häufig arbeitet Nananan mit Bildausschnitten und Nahaufnahmen. Durch dieses Inszenieren von Fragmenten des Gesamtbildes entsteht an einigen Stellen für den ungeübten Leser zwar leichte Verwirrung, doch die fragmentarische Bildarbeit bietet dem Leser im gleichen Moment viel Platz für eigene Interpretationen. Für einen Zeichner (sowohl im Manga, als auch im Comic) ebenso ungewöhnlich, aber umso mehr hervorzuheben, ist das Zusammenspiel von Wort und Bild. Nananan verwendet beide Elemente vollkommen gleichberechtigt. Sie kommen in ihrem Werk sowohl zusammen, als auch strikt getrennt vor. In ihrem Manga gibt es so durchaus einige Stellen, die komplett auf Illustrationen verzichten und das Wort allein in den Vordergrund stellen.

„Liebe und andere Lügengeschichten“ ist ein Manga, der durch den künstlerischen Anspruch Kiriko Nananans an Bildarbeit, Perspektive und Erzählung sehr gelungen ist. Gerade im Genre Josei-Manga gibt es hierzulande nur sehr wenige Veröffentlichungen. Umso schöner ist es, dass sich der shodoku-Verlag (Schreiber & Leser) den Werken Nananans angenommen hat. Mit „Liebe und andere Lügengeschichten“ wird wieder einmal deutlich, wie vielschichtig und vielfältig Mangas sind, und dass auch in diesem Genre künstlerisch anspruchsvolle Autorenwerke zu finden sind.



Kiriko Nananan: Liebe und andere Lügengeschichten
shodoku 2008, 216 Seiten, s/w, broschiert, € 14,95
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