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3. Januar 2009
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Christopher Pramstaller
für satt.org |
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Jason Lutes lässt Geschichte lebendig werdenEs ist soweit, und man möchte sagen: endlich! Mit „Bleierne Stadt“ hat Jason Lutes den zweiten Band seiner als Trilogie angelegten Erzählung um das Berlin der Weimarer Republik vorgelegt (zumindest auf Deutsch, im Original erscheint die Serie vorab im Heftchenformat). Fünf lange Jahre sind vergangen, seitdem 2003 der erste Band, „Steinerne Stadt“, von den Kritikern der Feuilletons gefeiert wurde und Lutes zu einem der Großen unter den Comic-Künstlern machte. Immer wieder musste der Veröffentlichungstermin verschoben werden, nahezu endlos schien die Zeit - doch das Warten hat nun ein Ende, und es hat sich gelohnt. Ebenso eindringlich und lebendig wie bereits im ersten Band, zeichnet Lutes das Bild einer Stadt in den Zwischenkriegsjahren, die kulturelle Bohème ebenso beherbergt wie bittere Armut, kommunistische Arbeiterbewegung ebenso wie nationalsozialistischen Milizen. Ausgangspunkt für „Bleierne Stadt“ sind die Ereignisse des Blutmai 1929, in dem bei Kundgebungen und Auseinandersetzungen zahlreiche Zivilisten getötet wurden. Enden wird der zweite Band mit den Reichstagswahlen im September 1930, in denen die Nationalsozialisten zweitstärkste Fraktion im Parlament wurden. Zwischen diesen beiden Ereignissen sind die historischen Eckpunkte klar abgesteckt. Es ist ein Berlin, in dem sich nicht nur die politische Stimmung immer weiter aufheizt und die Demokratie schwanken lässt, sondern auch ein Berlin der sozialen Gegensätze. Ein Soziotop des dekadenten Reichtums und der erfrierenden Obdachlosen. Lutes Stadtpanorama besticht durch Authentizität. Jahrelang recherchierte er, wertete Fotoquellen und alte Stadtpläne aus. Kaum jemand vor ihm hat eine derart detailreiche Studie der Stadt zwischen den beiden großen Kriegen geschaffen. Der Comic als visuelle Erzählform kommt ihm dabei entgegen. Denn das Bildliche steht im Vordergrund, kann optisch eindrucksvoll aufzeigen. Wo der historische Roman nur durch farbenreiche Worte versuchen kann Bilder zu erzeugen, lässt Lutes die Bilder sprechen. Historiker argumentieren immer wieder, dass fiktionale Werke, wie Lutes’ Comic, den historischen Fakten nicht präzise entsprechen würden, doch entgegnet er diesen Kritikern in einem Interview mit newsarama.com: „Der Historiker weiß auch nicht worüber die Leute an der Straßenecke damals gesprochen haben. Oder wie es war, sich zu verlieben, oder ins Kabarett zu gehen. Sich diese Dinge vorzustellen, erlaubt es mir, mich den Menschen von damals nahe zu fühlen.“ Während der Journalist Kurt Severing verzweifelt versucht gegen die Radikalisierung anzuschreiben, ... Mit seinem, dem Realismus verpflichteten, klaren schwarz-weißen Strich, zeigt er immer wieder Details auf, die beiläufig kaum Beachtung finden, die historische Stadt jedoch lebendig und echt erscheinen lassen. Dabei lehnt er sich stilistisch an die Ligne Claire an. Die Menschen und ihre Gesichter reduziert er, soweit möglich – vielleicht sogar etwas zu sehr, denn nicht jede Figur ist sofort wieder zu erkennen, wenn der Handlungsstrang um sie herum wieder aufgenommen wird. Den Hintergrund hingegen gestaltet er teilweise fast überbordend an Details, um die Historizität der Stadt einzufangen. Es ist sehr schade, dass die Ausgabe der deutschen Übersetzung im Vergleich zum amerikanischen Original verkleinert wurde – und das nicht unerheblich. Carlsen druckt die Geschichte auf 21 mal 14 cm großen Seiten. Drawn & Quarterly, der Herausgeber der nordamerikanischen Version, lässt den Bildern mit 25 mal 19 cm wesentlich mehr Platz. Dadurch wirken die Panels an manchen Stellen etwas voll. Doch das ist sicherlich nicht dem Künstler selbst anzurechnen, sondern dem Herausgeber. Lutes ist nicht nur in seinen exakten Detailstudien der Stadt ein Meisterstück gelungen. Er ist auch erzählerisch einer der ganz Großen seines Fachs. Allein durch die genau durchdachte Anordnung der Panels treibt er die Geschichte voran, verdichtet sie in kurzen, schnellen Sequenzen und verlangsamt sie wieder. Oft durch das Umschwenken auf einen anderen Protagonisten. ... bemerkt die Kunststudentin Marthe Müller im Rausch des bohèmen Lebens kaum, wie die noch junge Demokratie dem Abgrund entgegen taumelt. Wie durch ein Kaleidoskop lässt uns Lutes in eine Zeit blicken, die sich immer radikaler wandelt. Minutiös und feinfühlig entwirft er ein Bild der Stadt und ihrer Bewohner, in der die vielfältigsten Lebensentwürfe aufeinander treffen, sich verbinden oder getrennt bleiben. Ein Ineinander und Durcheinanderwirken der Charaktere und ihrer Schicksale. Es ist daher nicht die eine, große Erzählung, durch die Lutes versucht ein Porträt der Stadt zu zeichnen. Es sind vielmehr kleine Geschichten, die aneinander anknüpfen, sich verbinden und ineinander greifen. „Es geht darum, eine gewisse Anzahl von Erzählsträngen aufzubauen und darauf zu achten, dass nicht unzählige neue hinzukommen, bis ein Punkt erreicht ist, an dem alles nur noch verwirrend und chaotisch erscheint,“ so Lutes über die jahrelange Arbeit an der Trilogie. In die große Erzählung führt Lutes Nebencharaktere ein, durch die er die Menschen in den unterschiedlichsten sozialen Milieus porträtiert. Ihre Lebensentwürfe stehen in der großen Stadt einerseits in Verbindung, beeinflussen sich andererseits aber auch überhaupt nicht. Stilistisch inspiriert zeigt er sich von Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Wim Wenders’ „Der Himmel über Berlin“. So wie die Engel dort den Gedanken der unterschiedlichen Menschen lauschen können, will es auch Lutes ermöglichen, die Gefühle seiner Protagonisten spürbar zu machen, den Zeitgeist darzustellen, und das Lebensgefühl der Metropole zu illustrieren. Zwei dieser Menschen nehmen einen etwas prominenteren Platz ein, bilden das Bindeglied, an dem sich die verschiedenen Erzählstränge immer wieder festmachen - der Journalist Kurt Severing und die Kunststudentin Marthe Müller. Während Severing immer verzweifelter versucht, gegen den Strom der Radikalisierung anzuschreiben und zu verdeutlichen, welche Gefahren durch den Nationalsozialismus drohen, verlieren seine Worte immer mehr an Kraft und können kaum noch Wirkung entfalten. Marthe hingegen flüchtet sich in die Welt des Jazz und der Kabaretts. Sie erhält Einlass in die Welt der Bohème, der Salons und wilden Feiern. Vom Rausch der kulturellen Metropole wie betäubt merkt sie kaum, wie die noch junge Demokratie in den Abgrund taumelt. Gekonnt greift Lutes die Erzählstränge des ersten Bandes auf, entwickelt sie weiter und führt fast beiläufig neue Charaktere ein. Den Obdachlose Pawel, der im Park unter freiem Himmel übernachtet, das Waisenkind Silvia, das bei ihm Zuflucht gefunden hat, die jüdische Familie Schwarz, die immer stärker angefeindet wird, oder die „Cocoa Kids“, eine Jazz Band aus New York, die mit ihrer Musik das nächtliche Berlin berauscht. Es entsteht ein strukturiertes, erzählerisches Chaos, das die gesellschaftlichen Wirren Berlins aufnimmt und plastisch illustriert. Arbeiter, Nationalsozialisten, Obdachlose, Juden, Bohèmiens – alle mit eigenen Interessen, Zielen, Rückszugsorten – und alle im Sog der Zeit, ohnmächtig ihm zu entkommen. Währenddessen werden die Sitten der Straße immer rauer. Jason Lutes ist ein Meister seines Fachs - zeichnerisch, erzählerisch und dramaturgisch. Mit „Bleierne Stadt“ hat ein soziohistorisches Panorama Berlins geschaffen, das Geschichte spürbar werden lässt. Es ist eine Sinfonie der Großstadt in Comic-Form.
Abermals beginnt nun ein sehnsüchtiges Warten auf den nächsten, diesmal abschließenden Band der Trilogie. Doch wird das Warten wohl auch dieses Mal fast endlos erscheinen. Der Abschlussband ist erst für 2012 geplant, sechzehn Jahre, nachdem Lutes mit der Arbeit an seinem Berlin-Zyklus begonnen hat.
Jason Lutes: Berlin Band 2 – Bleierne Stadt |
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