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16. Januar 2011
Sven Jachmann
für satt.org

  Patrick Prugne/ Tiburce Oger – Die Herberge am Ende der Welt
Patrick Prugne (Zeichnungen)
und Tiburce Oger (Text):
Die Herberge am Ende der Welt

Aus dem Französischen
von Tanja Krämling
Splitter Verlag 2010
144 S. 19,80 Euro
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Patrick Prugne/
Tiburce Oger

Die Herberge am
Ende der Welt

In ihrer erzählerisch missglückten und ebenfalls bei Splitter veröffentlichten Revitalisierung klassischer (See-)Räuberpistolen »Canoe Bay« hat das Duo Prugne und Oger mit seinen beeindruckenden Aquarellbildern viel gezeigt, aber ebenso beeindruckend wenig erzählt. An zahlreichen Stellen beanspruchte und deklarierte die Initiationsgeschichte eines Nachwuchspiraten eine epische Breite, die sie allenfalls mittels Behauptungen, nicht jedoch durch sorgsames Erzählen erfüllte. Kurz gefasst: Für »Die Herberge am Ende der Welt« – eine ursprünglich dreibändige Albenreihe, die nun als Oneshot im sogenannten Splitter Book Format aufgelegt wird – gilt dies nicht mehr. Die umfangreichere Seitenzahl und die wesentlich konventioneller genutzte Seitenarchitektur (die nun, trotz der nach wie vor detailversessenen und nuanciert kolorierten Panels, dem Plot und nicht der Kontemplation untergeordnet ist) mögen ihren Teil dazu beitragen. Mehr aber noch gilt dies für die dichte Konstruktion der Story, die eigentlich Fantasy erzählt und auch entsprechende Erwartungen schürt, jedoch auf sympathisch altmodische Weise mit Elementen der (Neo-)Gothic Novel hantiert.

Es wird viel Lovecraft-Stimmung versprüht, und das beginnt bereits mit dem Setting: Im Jahre 1884 gastiert der Schriftsteller Edgar Saint-Preux in einem verlassenen Fischerdorf irgendwo an der bretonischen Küste, um Entspannung und Impulse für seinen folgenden Roman zu finden. In der titelgebenden Herberge am Ende der Welt berichtet ihm der kranke und altersschwache Herbergsvater vom Verbleib der restlichen Bewohner. In Rückblenden während regendurchtränkter Nächte und in insgeheimer Gegenwart scheuer, geheimnisvoller Kobolde erzählt er von dem 50 Jahre zurückliegenden rätselhaften Verschwinden des jungen Mädchens Irena, deren Leiche, im Gegensatz zu der ihrer Mutter, nie gefunden wurde. Nach über zehn Jahren taucht Irena jedoch urplötzlich wieder im Dorf auf. Ihre Geschichte bleibt indes ungeklärt, weil sie ihre Stimme verloren hat. Stattdessen verfügt sie aber nun über metaphysische Fähigkeiten, mit deren Hilfe sie kranke Menschen und Tiere heilen kann. Zudem wird sie stets von einer Phalanx besagter Koboldwesen begleitet. Der anfängliche Nutzen, den die Bewohner in den gutmütigen Absichten Irenas erkennen, wandelt sich sukzessive in Skepsis und schließlich in bedrohliche Abscheu, nachdem sich im Dorf sonderbare Phänomene häufen: Immer mehr Bewohner verrichten Besessenen gleich stoisch und regungslos ihre Arbeit oder werden ermordet, später verbreitet sich eine pestartige Krankheit, und all diese Erscheinungen scheinen von monströsen Wesen aus dem Meer gesteuert ...

Die Auflösung, so viel sei verraten, kappt die unheimliche Atmosphäre zumindest partiell, weil sie letztlich allem Unerklärlichen Evidenz verabreichen will. Lovecrafts Naturalismus verliert sich durch exzessive Beschreibungen im Surrealismus, überträgt das Chaos des menschlichen Verstands in eine derart überpräzisierte Sprache, dass das Konkrete wieder gestaltlos und dadurch umso bedrohlicher und unbegreiflicher wird. In »Die Herberge am Ende der Welt« bleibt davon nur die Krise des rationalen Geistes, der vom Geschehen nicht existenziell bedroht wird, sondern schlicht neue Wahrheiten integrieren muss. Bis dahin geriert sich der Plot jedoch als atmosphärische Schauererzählung. Ihre Rätselhaftigkeit schöpft sie aus der Verquickung zweier Zeitebenen. Ein klassisches Gothicmotiv: Jede Passage der Vergangenheit, die der Herbergsvater dem konsternierten Schriftsteller Prieux schildert, ist ein Baustein zur Erklärung des gegenwärtig verlassenen Fischerdorfes und somit auch potentielle Attacke seiner naturwissenschaftlich grundierten Ratio. Allerdings gleicht sein Interesse eher detektivischer Neugier, Krisen zeichnen sich keine ab, und dies überträgt sich behäbig auf den Storyverlauf, der die Alterität mit Fantasyelementen zu zähmen versucht. Die Genreerzählung bleibt also Genreerzählung, aber zumindest eine, die gehobene Lagerfeuerromantik zu verbreiten weiß.