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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen





4. Oktober 2011
Sven Jachmann
für satt.org

  >Die Kapuzinerschule Bd. 1
JB Djian (Text),
Vincent (Zeichnungen),
Dame Morgil (Farben):
Die Kapuzinerschule Bd. 1: Das vergiftete Dorf
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2010
56 Seiten, 13,80 Euro
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Die Kapuzinerschule Bd. 2
Die Kapuzinerschule Bd. 2: Der Erbe
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2011
56 Seiten, 13,80 Euro
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JB Djian/Vincent:
Die Kapuzinerschule

In den ersten zwei Alben der bislang unabgeschlossenen Fantasy-Reihe Der große Tote (Ehapa 2008/ 2009) hat Szenarist Djian, in Zusammenarbeit mit Loisel (Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit, Peter Pan), bereits eindrucksvoll bewiesen, dass ihm wenig an originärer Fantasy denn an magischem Realismus gelegen ist: In Der große Tote wichen die Gesetze einer anderen, phantastischen Welt sehr bald den ersten Anzeichen einer Ökoparabel, von der jedoch noch nicht abzusehen ist, wohin sie führt. Offensichtlich aber ist: Was sich in der phantastischen Parallelwelt ereignet, besitzt gewaltige Auswirkungen auf die erste, die reale Welt.

Die zweibändige Miniserie Die Kapuzinerschule, die nun, relativ zeitnah zum französischen Original, komplett übersetzt vorliegt, verschränkt ebenfalls die Gesetzmäßigkeiten zweier Welten, allerdings nicht, um ein politisches Statement zu statuieren. Vielmehr sind es unterschiedliche Genrekonzepte, die auf fast schon unscheinbare Weise äußerst betörend miteinander harmonieren. Denn vor einer Kulisse der klassischen gothic novels des 19. Jahrhunderts erzählt Die Kapuzinerschule zunächst eine veritable Kriminalgeschichte, in der, ein typisches Motiv auch in der Schauerliteratur, ein mutmaßliches Verbrechen aus der Vergangenheit die Gegenwart zu überwältigen droht: 1851, zwanzig Jahre nachdem die beiden nach Paris zogen, kehrt das bürgerliche Paar Honoré Penrec’h und Camille Desfhouet in ein kleines Fischerdorf an der Bretagne zurück. Ihr Ziel: die angrenzende Insel Dourduff, wo sie gemeinsam ihre Kindheit auf der Kapuzinerschule verbrachten, dem einzigen Anwesen, das die Insel beherbergt. Die Dorfbewohner registrieren die unerwartete Ankunft der Städter ebenso mit Besorgnis wie Mademoiselle Hortense, die Schulleiterin, und ihr Handlanger Louis. So entwickelt sich schnell ein Netz aus gegenseitigen Verdächtigungen, dessen Reiz insbesondere darin besteht, dass völlig ungeklärt bleibt, wessen Schuld eigentlich aus welchen Gründen gesühnt werden soll. Das konspirative und skeptische Gebaren der Bewohner ist allenfalls so verdächtig wie das selbstsichere Auftreten Camilles zwischen detektivischer Souveränität und zweckrationaler Heimlichtuerei pendelt. Was in vorangegangenen Sequenzen zunächst als mögliches Motiv der Rückkehr eines Opfers erschien, nährt ein paar unscheinbare Handlungsschritte später urplötzlich diffusen Verdacht.

Zu dieser kriminalistischen Verzahnung, die sich um das geheimnisvolle Verschwinden eines jungen Mädchens namens Emma zu drehen scheint, in das der hilflos-lethargische Honoré vor seiner Ehe mit Camille heillos verliebt war, gesellt sich ein phantastisches Element, das dem Geschehen einen geradezu freudianischen Aspekt verabreicht. Um die Vergangenheit und mit ihr die Rückkehr des Städterpaares besser zu verstehen, wirft die Schulleiterin voller Sorge eine Prise sonderbaren und offensichtlich gefährlichen Staubs in die Lüfte. Was sich in der anschließenden Sequenz auf den ersten Blick als Rückblende zeigt, ist in Wirklichkeit ein reales Durchleben: Der kleine Honoré, der sich da auf dem Schulhof zaghaft und von Camille argwöhnisch beäugt mit Emma im Wald verabredet, existiert tatsächlich und bewegt sich fortan ziellos durch eine ihm fremdartige Realität, in der er schließlich sich selbst als Alter Ego beobachten muss. Von hier an werden auch sämtliche Sicherheiten des Erzählens durchlässig, weil alles Erzählte so sehr Schein zu sein droht, wie das undurchschaubare Spiel der Figuren. Es ist vor allem das Verdienst des Szenaristen Djian, dass der Plot sich nicht auf Eindeutigkeiten, wie sonst im französischen Mainstream-Comic eher die Regel, kapriziert, sondern im Zweifel für die Diffusion votiert. Was Metapher sein könnte, wird zur innerdiegetischen Selbstverständlichkeit, was zur Oberfläche drängt, ist nicht notwendig eine Leistung des Erinnerungshaushalts: das Verdrängte erlangt ganz konkret Gestalt (und trotzdem bleibt für somit zwei im Prinzip identische Figuren ungeklärt, warum dies alles geschieht – auch dies ist ein Spiel mit den Gesetzen der Kriminalerzählung). Mag die finale Auflösung auch etwas lückenhaft und brachial erscheinen, bleibt dennoch ein mysteriöses Erzählexperiment mit den Bausteinen zweier konträrer Genres, das augenscheinlich um eine originäre Sprache ringt – ein schönes Kleinod, das im mittlerweile enorm angewachsenen Verlagsprogramm hoffentlich nicht unterzugehen droht.