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13. November 2011
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Britta Keutgen
für satt.org |
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Die Haare der VergangenheitEin junger Mann strickt an einem scheinbar unendlichen Wust aus Haaren. Seine panisch aufgerissenen Augen richten sich auf einen sabbernden Hund mit Menschenkopf. Im Hintergrund irren zwei junge Frauen mit ängstlich-suchendem Blick umher. Alle befinden sich in einer labyrinth-artigen Halle mit riesigen Säulen und gekachelten Belägen. Dieses Bild zeigt das Cover des Comics »Hair Shirt« von Patrick McEown, das auf Deutsch im avant-Verlag vorliegt. Der Betrachter kann sich anhand des beklemmenden Covers nur fragen: Was hat das alles zu bedeuten? Zu Recht entsteht die Vorahnung, dass die folgende Erzählung von Skurrilem und Surrealem geprägt sein wird. Nach der Trennung von seiner langjährigen Freundin kehrt der Protagonist John aus der Großstadt zurück in seine Heimatstadt. Vorgeblich um sein Studium zu beenden. Dort trifft er auf seine Kindheitsfreundin Naomi. Die beiden fühlen sich verbunden und bändeln miteinander an. Doch wiederkehrende böse Erinnerungen und Kindheitstraumata holen sie schnell ein und machen ein unbeschwertes Zusammensein unmöglich. Was wirklich damals passierte, bleibt im Unklaren; es scheint aber viel mit Naomis zerrütteter Familie zusammenzuhängen. Der gewalttätige Vater und der sowohl physisch als auch psychisch brutale Bruder Chris, der bei einem Autounfall als Teenager zu Tode kam, verfolgen John und Naomi wie Geister. Gefühlschaos und sexuelle Verwirrungen sind die Folgen. Dabei finden oftmals Verwischungen von Realität, gruseligem Traum und Erinnerungsfetzen statt. Dies hält die Spannung während des gesamten Comics aufrecht. Jedoch wartet nicht nur der Leser, sondern ebenso der Protagonist auch über das Ende der Geschichte hinaus vergeblich auf Aufklärung. Es ist gerade diese Uneindeutigkeit, die »Hair Shirt« zu einer postadoleszenten Traumageschichte ersten Grades macht, wenn sich John zwar zwischen den vielen Fragezeichen der Vergangenheit und zumal der Zukunft gefangen sieht, es ihm aber dennoch gelingt, ›weiterzumachen‹, nicht an sich selber zugrundezugehen.
Unbehagliche Düsterheit zieht sich entsprechend durch den gesamten Comic. Der Schauplatz der kanadischen Kleinstadt wird gleich zu Beginn als ungeheuer deprimierend beschrieben. Es ist Winter und scheint niemals richtig hell zu werden. Bis auf wenige Ausnahmen vergehen die Figuren in ihrem Pessimismus der Reagan-Ära. Der notorisch angespannte und jammernde John hängt der Vergangenheit nach und wirkt mit seiner mageren Statur und den hängenden Schultern auch körperlich schwach und kraftlos. Er ist offensichtlich geplagt von Selbstvorwürfen, denn das immer gewaltiger werdende »Hair Shirt«, an dem er wiederkehrend in seinen Träumen strickt, ist ein grober Stoff, der getragen wird, um Buße zu tun. Naomis Auftreten hingegen schwankt zwischen scheinbarem Selbstbewusstsein, dann wieder hervorkommender Unsicherheit und der üblen Gewohnheit, die Menschen, die ihr wichtig sind, vor den Kopf zu stoßen und zu piesacken. Aufgrund dessen fällt es eher schwer, die Figuren zu mögen. Was sie jedoch ausstrahlen, ist Glaubwürdigkeit. Passend zur »zerrückelten« Handlung und ebensolchen Charakteren gestaltet sich die künstlerisch-zeichnerische Umsetzung des Comics. Schrift, Panelumrandung und der gesamte Stil sind leicht krakelig, dunkle Farben dominieren. Die Gesichter übermitteln aussagekräftige Mimik, bestehen aber nur aus wenigen Zügen, weshalb für den Betrachter gleichzeitig viel Spielraum gelassen wird, die Figuren durch eigene Vorstellungen optisch zu komplettieren. Der Zeichner Patrick McEown wurde 1968 in Kanada geboren und arbeitet seit den 1990er Jahren im Comic- und Illustrationsbereich. »Hair Shirt« bezeichnet er als seinen ersten wirklichen Comic und dieser ist inspiriert durch eigene Erlebnisse. McEown hat eine anspruchsvolle Erzählung geschaffen, die alles andere ist, als leichte Unterhaltungslektüre. Negative Emotionen überschwemmen kontinuierlich den Leser, ergänzt durch Verwirrung, Verstörung, Erotik und Grusel. Vieles muss selbst erschlossen werden, Handlung und Figuren werden nicht wirklich greifbar. Daneben findet sich eine übermäßige Symbolträchtigkeit, die bereits durch die Titelwahl deutlich wird. All dies ermöglicht dem Leser auf 120 Seiten immenses Interpretationsfutter und somit individuelle Erkenntnisse, was man selber aus dem Comic für sich mitnehmen möchte.
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