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21. November 2011
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Felix Giesa
für satt.org |
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Nate Powell: Any EmpireNate Powells zweite Graphic Novel, nach seiner überaus erfolgreichen und mit einem Eisner Award belohnten Erzählung Swallow Me Whole, reiht sich nahtlos an den Vorgänger. Jedoch werden in Any Empire die Kindheitsmuster, oder genauer: das eigene Erinnern, das Nachempfinden der kurzen und angsteinflößenden Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenensein, noch intensiviert, sowohl erzählerisch als auch graphisch. Die Handlung von Any Empire ist in zwei Kapitel unterteilt, die zeitlich stark voneinander getrennt sind. Im ersten Kapitel erfährt der Leser von Lee, Purdy und Sarah, die als vielleicht zehnjährige Kinder irgendwo in Suburbia im amerikanischen Mittelwesten der 1980er Jahre aufwachsen. Lee und Purdy idealisieren ihre Väter, beides Vietnamveteranen, und leben entsprechende kindliche Phantasien aus. Während dies bei Lee die Vorstellung von G. I. Joe-Figuren ist, die eine Cobra-Basis einnehmen, unterstellt sich Purdy Zwillinge, mit denen er echte Missionen in der Umgebung ausführt. Verschwimmen bei Lee Realität und Phantasie, wenn etwa das Gartenmobiliar in seiner Vorstellung zur Cobra-Festung wird, leben Purdy und die Zwillinge ihre Spiele handfest aus. Und so werden für eine Mutprobe Schildkröten mit einem Baseballschläger malträtiert. Es ist Sarah, welche die überlebenden Schildkröten schließlich findet und beschließt, gleich ihrer Kinderbuchheldin Nancy Drew, die Ursache dafür zu ergründen. Im zweiten Teil schließlich kommt es zu einem Widertreffen zwischen Lee und Sarah, die schließlich auch ein Paar werden. Purdy und die Zwillinge hingegen wurden Soldaten und tragen nun, wie auch bereits die Väter, ihr Päckchen Trauma in die Heimat des Vororts. Es sind diese wenigen Eckpunkte, die ein komplexes Erzählgeflecht spannen und dessen visuelle Umsetzung Powell in atemberaubender Weise gelingt. Da es keinen Erzähler gibt, aber ganz offensichtlich von einem sehr viel späteren Zeitpunkt das jeweils Abgebildete berichtet wird, erscheint vieles in den streckenweise düsteren, schwarz schraffierten Bildern wie distanziert, regelrecht verschwommen, nicht eindeutig. Lees Phantasien werden zwar graphisch durch schwarze Hintergründe abgesetzt, Notizzettel als visuelle Bekräftigungen reproduziert, aber spätestens wenn die Zwillinge und Purdy, der nach einem Tritt auf eine Landmine mehr Action Figur (und man fragt sich, wessen Phantasie dies nun eigentlich ist: Purdys eigene? Lees, der noch die zentralste Figur ist?) als Mensch ist, mit einem Panzer in ihren heimatlichen Vorort eindringen, dann sind die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwunden und es verschwimmen in der Erinnerung (doch wessen eigentlich?) Tatsachen mit Empfindungen und werden, zumindest auf der Comicbuchseite, Realität. Der gesamten Erzählung wohnt, je weiter man liest, eine Verunsicherung und latente Bedrohung zugrunde, die sicherlich mit daran Schuld sein dürfte, dass Hayley Campbell in ihrer Besprechung des Bandes für das Comics Journal nach der Lektüre das Gefühl hatte, etwas Zentrales verpasst zu haben. Und das, obwohl sie während der Zeit ihrer Lektüre die aktuellen London-Riots dieses Jahres thematisiert. Denn was sich hier, und, so muss man festhalten, in der gesamten Popkultur, äußert, wenn man etwa an Musicvideos wie Arcade Fires Scenes From The Suburbs oder The Beastie Boys Don't Play No Game That I Can't Win erinnert, sind die gegenwärtigen Kriegstraumata zehn Jahre nach 9/11, die Paranoia an der Heimatfront, die sich auf perfide Weise in den verstörenden Verhaltensweisen der Kinder offenbart. Das es sich hierbei lediglich, im vorliegenden Band für Amerika (aber das Ergebnis gilt genauso andernorts), um ein Fortschreiben kollektiver Kriegstraumata handelt, fasst Any Empire in erschreckender Klarheit in Bilder, indem es eben die bekannten Bilder der Kriege reproduziert. Sei es den Ersten Weltkrieg in Ausschnitten aus dem MGM-Antikriegstrickfilm Peace on Earth (1939), die lethargischen Väter mit ihren Vietnambürden und schließlich die gegenwärtigen Konflikte im Irak und in Afghanistan, in denen Purdy und seine Zwillinge Unvorstellbares erleben. Graphisch umgesetzt in einer endlosen Reihe Purdys in zahllosen Uniformen der Menschheitsgeschichte, die allesamt geradewegs in ein Grab marschieren. Gemeinsam mit dem Kapuzenmann von Abu Ghraib, den Lee in der Zeitung sieht, werden sie zu »anonymen Klonen«, wie der Bildtheoretiker Mitchell es unlängst nannte, welche die Ikonen unserer Zeit sind. Sie flössen uns Angst ein und beunruhigen uns, in der Rückschau wollen wir uns lieber nicht daran erinnern und wünschten uns, alles sei nur ein phantastischer Kampf zwischen G. I. Joe und Cobra. Doch das war er noch nie.
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