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16. Juni 2012
Thomas Vorwerk
für satt.org

  Paul Deliège: Die Gifticks
Paul Deliège: Die Gifticks
Gesamtausgabe Band 1-3

Piredda 2009-10
je 112 S., HC, € 27,50
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Die Gifticks
von Paul Deliège

»Giftick sein ist unser Leben, wir wollen allen Saures geben.« So hieß es in den 1970ern in den Fix & Foxi-Heften, die aufgrund ihrer Substandard-Kauka-Produkte oft belächelt wurden, aber neben den passablen Pauli-Abenteuern vor allem die Crème de la Crème der École Marcinelle (Franquins »Jojo«, Robas »Schnief & Schnuff«, Serons Minimenschen, Peyos Schlümpfe u.v.a.) dem deutschen Publikum erstmals präsentierten. Gerade mit den etwa gleichgroßen Minimenschen und Schlümpfen werden die Gifticks oft in einen Korb geworfen, und tatsächlich hatten die Schlümpfe mit beiden kleinwüchsigen Kollegen Crossovers (in der Gesamtausgabe bedient man sich eines Tricks, um der Rechtefrage auszuweichen).

Doch wo die Schlümpfe in einer mittelalterlichen heilen Welt leben (heutzutage würde man das Fantasy nennen, inklusive Zauberer Gurgelhals aka Gargamel) und die Minimenschen in einer hochtechnologischen Winzstadt (der Fortschritt spielte damals wie heute eine große Rolle für präpubertäre Jungs), sind die Gifticks zwischen damals und heute zerrissen. So gibt es in der Gesamtausgabe kleine Abenteuer, die die mittelalterliche Origin-Story der Gifticks zeigen, doch nur drei der energischen Knaben landen auf sich allein gestellt in der heutigen Welt, die sie sich (auch Kleinwüchsige können größenwahnsinnig sein) gleich Untertan machen wollen. Hemmungslos genug sind sie dafür. Die Gifticks machen beispielsweise von Schusswaffen Gebrauch, wie man es sonst nicht mal von den Gegenspielern der anderen hochkorrekten Comichelden kennt. Die Gifticks sind Antihelden, und für ein so junges Publikum sind sie in dieser Eigenschaft ziemlich allein auf weiter Flur. Kein Wunder, dass sie Eindruck auf mich machten, wie es in den Siebzigern sonst vor allem fabulöse Schurken wie Fantomas oder der Joker vollbrachten.

  Paul Deliège: Die Gifticks
Paul Deliège: Die Gifticks
Paul Deliège: Die Gifticks

Irgendwie hochinteressant an den drei Gifticks ist auch, dass sie man von ihnen außerhalb der Kleidung - einem Paar Schuhen mit Schnallen-Applikation, dem schmucken giftgrünen Mantel und dem Totenkopf-Hut im unauffälligen Knallrot - quasi nur zwei hellgrüne Hände, eine Nase in der selben Farbe und zwei Augen zu sehen bekommt. Im Interview (Band 3) erlebt man somit auch ihren Schöpfer, Paul Deliège, wie er ganz verzückt von einem modellierten Giftick ist, der entsprechend innen hohl ist, sobald man den Hut abnimmt. »In der Tat, was ist denn ein Giftick? Ein Hut, ein Mantel, zwei Füße und zwei Hände! Da ist nichts innen drin! Manchmal bitten mich einige kleine Schlaumeier bei Signierstunden, einen Giftick ohne Hut zu zeichnen oder wenn er in ein Jagdhorn bläst. Aber ein Giftick kann nicht in ein Jagdhorn blasen. Er hat gar keinen Mund!«

Entsprechend kann man die drei Gifticks auch gar nicht voneinander unterscheiden. Keine unterschiedlichen Mützen wie bei Tick, Trick und Track, keine Namen, keine durch Props unterstützte Charakteristika wie bei den Schlümpfen. Wenn sie sich streiten, hat man manchmal das Gefühl, dass der eine etwas weinerlicher ist und der andere vielleicht etwas herrischer, aber es ist wahrscheinlicher, dass diese Rollenverteilung sich von einer Comicseite auf die nächste verändert, als dass Deliège sich jemals einen Kopf darüber gemacht hat, welcher Giftick welche Charaktereigenschaften hat. Vielleicht ist es auch deshalb (neben anderen Gründen) nie zu einer Zeichentrickverfilmung gekommen. Um dem dadaistischen Minimalismus der Gifticks gerecht zu werden, dürften sich die Stimmen der drei nicht unterscheiden, und wenn sie keine Mundbewegungen haben, könnte man ohne die Zuordnungspfeile der Sprechblasen größtenteils gar nicht bestimmen, wann welcher Giftick was sagt. Und das wäre zwar aus postmoderner Hinsicht sehr interessant, aber gerade für jüngere Zuschauer extrem verwirrend, um nicht zu sagen verstörend.

Was hingegen wie bei vielen Kinderhelden ganz auf das kleine Publikum zugeschnitten ist, ist zum einen der Blickwinkel der Gifticks, mit dem Blick auf die Welt der »Großen« - und der Tendenz, es denen »zeigen zu wollen«, sie zu regieren oder zumindest ärgern zu wollen. Die Machtfantasien junger Leser fangen ja nicht erst mit Superhelden-Comics an.

Leider unumgänglich ist es, zu erwähnen, dass die Abenteuer der Gifticks in späteren Jahren an Qualität verlieren. Wenn es um Roboter und eine Rattenherrschaft geht, merkt man, dass die Gifticks ein dramaturgisches Problem haben, das ihrem Schöpfer nicht verborgen blieb: Sie reagieren meist nur, es fällt ihnen schwer, selbst die Handlung voranzutreiben. Und die Abkehr von »normalen« menschlichen Gegenspielern war hier wohl nicht der beste Weg.

Nichtsdestotrotz würde ich die Gifticks als einen Klassiker der École Marcinelle bezeichnen - das Grundkonzept der Serie ist ebenso großartig wie die Figuren an sich, und sie sollten kein verborgenes Nischendasein mehr fristen, sondern endlich die Weltherrschaft erlangen!