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19. November 2012
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Kristin Eckstein
für satt.org |
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„Ich wünschte, ich hätte sie damals angesprochen …“Der deutsche Markt an shôjo manga bot in der letzten Zeit nur wenige Titel, die sich vom Durchschnitt der klassischen High School Love Story oder Liebesdramen mit phantastischen Elementen abgrenzen konnten; als positive Ausnahmen seien Karuho Shiinas mit dem Kodansha Manga Award ausgezeichnetes Nah bei dir – Kimi ni Todoke sowie Setona Mizushiros komplexes Psychogramm After School Nightmare genannt. Die Geschichte von Piece verspricht nun ebenfalls eine unkonventionelle Erzählung, in der die Hauptfigur bereits gestorben ist. Der Manga beginnt mit einer unangenehmen Entdeckung der jungen Studentin Mizuho, die ihren untreuen Freund mit einer Kommilitonin in flagranti erwischt. Bevor sie ihn zur Rede stellen kann, erfährt sie jedoch vom Tod ihrer ehemaligen Mitschülerin Haruka, die an Brustkrebs verstorben ist. Auf der Beerdigung trifft sie auf ihre zahlreichen früheren MitschülerInnen – doch niemand kann sich wirklich an die schweigsame und introvertierte Haruka erinnern, manche haben sogar ihr Gesicht vergessen. Von Harukas Mutter erfährt Mizuho, dass Haruka sie zu Hause als ihre „beste Freundin“ bezeichnet hat und wird daher um Unterstützung gebeten: Während ihrer High School-Zeit hatte Haruka einen heimlichen Freund, von dem sie schwanger geworden ist – ihre Mutter möchte, dass Mizuho nach diesem Freund sucht. Der erste Band erzählt nun sehr langsamen die ersten Stationen von Mizuhos Suche, die sich allerdings größtenteils als unergiebig erweisen. Mit dem Studenten Takashi – einem der wenigen Menschen, mit denen Haruka jemals geredet hat – glaubt Mizuho, bereits den Freund gefunden zu haben; doch liegt sie falsch. Da Takashi sich ebenfalls für die Verstorbene interessiert, schließen sich die beiden für ihre Recherche zusammen. An dieser Stelle endet der erste Band bereits. Wenngleich es so scheint, als wäre dies vergleichsweise wenig Inhalt für 185 Seiten, so liegt das in der Schwerpunktsetzung der Erzählung begründet: Der erste Band zeichnet sich durch eine Vielzahl an Retrospektiven und inneren Monologen von Mizuho und Takashi aus, welche vor allem einer ersten Charakterisierung dieser beiden Figuren und ihrer Beziehungen zu Haruka und ihren anderen MitschülerInnen dienen. Da die verstorbene Haruka im Fokus der Geschichte steht, ist davon auszugehen, dass diese Struktur auch in den folgenden Bänden beibehalten wird, um ihre Vergangenheit nach und nach zu entschlüssen. Die starke Präsenz einer nicht mehr lebenden Figur ist nun auch gleichermaßen das, was Piece von anderen Werken unterscheidet und zu einer Ausnahme unter vielen gleichförmigen Geschichten machen könnte. Zwar werden auch hier klassische Themen des shôjo manga wie Teenagerschwangerschaft und Mobbing respektive Außenseitertum behandelt und die Entwicklungsprozesse der Adoleszenz sowie die Suche nach der eigenen Identität der Protagonistin stehen im Vordergrund. Auch deutet sich an, dass ein nicht geringer Fokus auf der (vergangenen und zukünftigen) Beziehung zwischen Mizuho und ihrem sonderbaren ehemaligen Mitschüler Hikaru liegen wird. Doch ist es neben dem Erforschen von Harukas wahrem Charakter gerade die Protagonistin Mizuho, die sich als interessant erweist: Anders als die meisten weiblichen Hauptfiguren im Mädchenmanga ist sie emotionslos und distanziert, kann nicht mit anderen Menschen umgehen, verletzt sie und sich selbst ungewollt; auch über ihre Vergangenheit möchte man mehr erfahren. Es sind die Figuren und ihre Konzeptionalisierung, die die Spannung aufbauen und dafür sorgen, dass man wissen möchte, wie es mit ihnen weitergeht. Die vielen ernsten und seriösen Momente in der Geschichte werden – wie es für den Manga typisch ist – häufig durch super deformed-Szenen unterminiert und aufgelöst. Die negative Atmosphäre der Geschichte entfaltet sich vielmehr subtil, auf einer zweiten Ebene – etwa, wenn auf Harukas Beerdigung all ihre MitschülerInnen zu weinen beginnen, wenngleich sie sich größtenteils nicht einmal an das Mädchen erinnern; sie weinen nicht um Haruka, sondern projizieren ihre eigenen Ängste vor der Vergänglichkeit auf den Tod ihrer Mitschülerin. Lediglich Mizuho kann dieses Verhalten als das entlarven, was es tatsächlich ist: Heuchelei. Gleichermaßen verstörend mutet die Selbstverständlichkeit an, mit der über das Mobbing gesprochen wird, unter dem die Verstorbene jahrelang gelitten hat. Dass dies kaum problematisiert wird, verdeutlicht die Normalität des Phänomens ijime – einer extremen Form des Mobbings – in Japan. Auf der visuellen Ebene wiederum ist Piece nicht gerade ein Ausnahmewerk, bietet allerdings solide – dem Durchschnitt der in Deutschland publizierten Werke entsprechende – und detaillierte, liebevolle Zeichnungen. Herausragen sowohl die ästhetische Cover-Gestaltung als auch die zahlreichen Spiele von Ashihara mit dem Konzept der Pieces, der Puzzleteile, die sich in vielfältiger Manier piktoral im Manga spiegeln. Wenngleich die Metapher vom menschlichen Individuum als Puzzle, dessen Teile erst zusammen gesetzt werden müssen, alles andere als neu ist, so baut die Autorin sie in ihren Titelbildern, aber auch in Form von visuellen Symbolen dennoch kreativ und harmonisch in die Narration ein. Der erste Band von Piece lässt noch viele Fragen offen – insbesondere die, ob es sich bei der Geschichte um ein weiteres Ausnahmewerk in den Reihen des japanischen Mädchenmanga handeln könnte. In Japan war Piece nach gegenwärtig acht Bänden – noch ist die Reihe nicht abgeschlossen – erfolgreich genug, um im Oktober 2012 ein TV-Dorama nach sich zu ziehen. Nicht nur aus diesem Grund lohnt es sich, auch einen Blick auf die Folgebände zu werfen.
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