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10. Januar 2014
Thomas Vorwerk
für satt.org

  Neil Gaiman, J.H. Williams: Sandman Overture #1

Neil Gaiman, J.H. Williams:
The Sandman – Overture #1

DC Vertigo, $ 4,99


Neil Gaiman & J.H. Williams:
The Sandman – Overture #1

Mal schauen, ob ich das zusammenbekomme, was Neil Gaiman so an Sandman-Comics in den letzten anderthalb Jahrzehnten oder so nach Beendigung der Serie herausgebracht hat. Da kam zuerst die kurze Geschichte in The Dust Covers (1997), die aber nicht wirklich eine »Sandman«-Geschichte war, sondern eher eine »Introduction« in Comicform. Aber wie alles, was Gaiman und McKean gemeinsam fabriziert haben, ein Augenschmaus. Dann natürlich The Dream Hunters (mit Yoshitaka Amano, 1999), dass ich erst mit ca. sechs Jahren Verspätung erstand (Paperback, Second-Hand) und erst ca. zwei Jahre später las – und es war dann eine verdammt positive Überraschung. Die Comicfassung von P. Craig Russell lasse ich außer acht, weil ich nichts (aber auch so gar nichts!) davon halte, Gaimans Prosa-Arbeiten (ob illustriert oder nicht) nachträglich in Comicform umzuarbeiten. Da vertraue ich dann schon seiner Entscheidung, welche Geschichte sich für welches Medium eignet. Meistens ist das bloße Geldschneiderei (insbesondere in der Post-Sandman-Ära, wo neue Comics von Gaiman schon mal länger auf sich warten lassen), wobei P. Craig Russell als Künstler, der natürlich auch Wagner-Opern und Märchen von Oscar Wilde in Comics verwandelt, vermutlich am ehesten verdient hat, hier das eine oder andere Talerchen abzugreifen. Und seine Murder Mysteries habe ich tatsächlich mal gelesen. Aber da fand ich schon die zugrunde liegende Kurzgeschichte von Gaiman nicht so einen Knaller.

Die Vertigo-Weihnachtsanthologien namens »Winter's Edge« brachten fast obligatorisch einen kleinen Gaiman-Comic aus dem Endless-Versum, wobei aber die zeichnerische Leistung mehr verzückte als die narrativen Fingerspielereien. Aber für 8-10 Seiten mit einer Comic- und Illustrations-Legende wie Jeffrey Jones hat man seinerzeit gerne 7 oder 8 Dollar angelegt. Und John Bolton oder Michael Zulli gehören natürlich auch zu den Guten. Die Rahmenhandlung mit Sergio Aragones in Welcome back to the House of Mystery ist ebenso klar kein »Hauptwerk«, aber nett anzusehen und ganz amüsant.

Die meisten Wellen verursachte natürlich Endless Nights (2003), das ich sogar für satt.org besprach, wobei ich das verheerende Teilurteil wie folgt formulierte: »man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es vielleicht auch sein Gutes gehabt hat, als Gaiman damals nach 75 Heften aufhörte«.

Wednesday Comics (2009) habe ich immer noch nicht gelesen, in der Metamorpho-Story von Gaiman und Mike Allred soll neben dem Titelhelden auch das im Sandman (Facade) gefietscherte Element Girl mitspielen, aber das war's dann wohl auch schon mit dem Sandman-Bezug.

Und nun also mit einigem Werbe-Brimborium im Vorfeld die Rückkehr zum Sandman in etwas größerem Ausmaß, mit einer Mini-Serie, deren Story Gaiman angeblich schon länger im Kopf herumspukte, und bei der es sich um ein Prequel handelt, das sozusagen jenes Abenteuer von Morpheus erzählt, von dem aus er in Sandman #1 im Keller von Roderick Burgess landete. Wie Reboots sind natürlich auch solche Ansätze hervorragend geeignet, als »new starting point« neue Leser anzulocken. Und die sollen dann am liebsten nicht nur den kompletten Sandman nachträglich kaufen (aktuell glaube ich in der vierten Version einer luxoriösen Gesamtausgabe in Teillieferungen erhältlich), sondern am besten auch noch das andere Zeugs von Gaiman und dem Ausnahmezeichner Williams. Das schmale Heftchen, das irgendwo mal als »special sized« umworben wurde, hat jedenfalls neben 26 Comicseiten (und dem Cover) nicht weniger als elf Seiten Werbung (also fast ein Drittel), einige davon für Fremdartikel oder die DC-affine Fernsehserie »Arrow«, aber auch für Williams' Zusammenarbeit mit Alan Moore, Promethea, die Gaiman-Produkte Sandman und Black Orchid, sowie eine »original graphic novel« namens The Unwritten und sage und schreibe drei neue monatliche Vertigo-Serien, neben dem Sandman-Spinoff Dead Boy Detectives noch Coffin Hill und Hinterkind. Vom marketingtechnischen Standpunkt also ein Meisterstreich, um neue und zurückgerufene alte Fans neu anzufixen.

Doch man sollte DC (Karen Berger und Shelly Bond sind tatsächlich immer noch federführend hier) nicht dafür verurteilen, dass sie ihren Job verstehen. Wo Printprodukte überall auszusterben drohen und die neue Generation lieber daddelt als liest, ist der Heftchenmarkt schon ein hartes Brot.

Kommen wir lieber zu Gaimans Leistung. Und nachdem ich in den letzten Jahren öfter mal an ihm gezweifelt habe und fand, er wiederhole sich, hat er hier ein kleines Meisterwerk zusammengeschreinert, wobei man aber den Einfluss von J.H. Williams III keineswegs herabwürdigen sollte. Bei Promethea (ca. die ersten acht bis zwölf Hefte gelesen) war mir sein Stil immer als zu dekorativ und verschnörkelt erschienen, was aber natürlich auch Bestandteil des Comics war. Die Starman, Batman und Flash-Hefte von ihm haben keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Und dann kam Sandman Overture!

Erste Seite: bisschen viel Text, aber gleich ein farbenfrohes Spiel mit dem Medium. Und das zieht sich durch das ganze Heft. Da werden Zähne zu Comicpanels, da gibt es versteckte Botschaften, Morpheus, der einem schon in Gestalt von Katzen und was nicht alles begegnet ist, taucht anfänglich als außerirdische Pflanze auf (natürlich im Traum einer anderen Pflanze, die aussieht, als hätten Jim Woodring und Geoff Darrow sie gemeinsam erdacht), und wie die visuellen Ideen die Geschichte vorantreiben, zeugt davon, dass hier zwei wirklich durchdrungen haben, wozu Comics fähig sind. Selbst wenn Gaiman mal eine etwas schlaffe Idee hat (der Türsteher seines »Londoner Büros« ist ein Träumer, der im Traum nicht nur George Portcullis heißt (Portcullis ist das englische Wort für ein Fallgatter, wie es in Burgen gleich hinter der Zugbrücke angebracht wurde), sondern der auch ein »Gesicht« hat, das exakt so aussieht. Also eine Personifikation, die ein bisschen zu weit getrieben wurde. Doch dann macht Williams auch aus den Panelgrenzen ein Fallgatter und George sieht in einem dieser Panels durch ein Fenster, das abermals dieses Raster aufweist. Meta auf hoher Ebene. Und wie nebenbei spielt man dann noch mit der Farbe, die Morpheus und der Corinthian in die Zeichnungen bringen, die zunächst wie zeitgenössische Radierungen (die Geschichte spielt 1915) wirken. Der Corinthian, eine alptraumhafte Schöpfung des Meisters der Träume, war bei seinem ersten Auftauchen in Sandman #9 oder so noch sehr geheimnisvoll. Man sah lange Zeit alles aus seiner Perspektive, wobei er immer eine Sonnenbrille trug, die die Panels färbte. Und wenn er sie dann abnahm wurde es schnell besonders bunt, aber eher rot als blau. In Sandman Overture sieht man nun, das Morpheus, bevor er in Gefangenschaft geriet, die aus dem Ruder gelaufene Kreatur gerade nichtexistent machen wollte (»to uncreate« kann man schlecht übersetzen), bevor dann eben etwas schief ging. Und weil Gaiman den selben Gag nicht nochmal bringen kann (geübte Sandman-Leser erkennen den Corinthian bereits an seinen typischen Sprechblasen), dreht er die Schraube noch etwas weiter. Die »subjektive Kamera« fährt sozusagen noch ein paar Zentimeter zurück. An da die Augen des Corinthian eigentlich Zähne sind, gibt es dann dieses faszinierende wie sämtliche Logik ad absurdum führende Panel:

Sandman: Overture

Das Ding ist: im ersten Heft passiert gar nicht mal so viel. Fünf Seiten über die außerirdischen Pflanzen, dann das Zwischenspiel mit George und dem Corinthian, ein kurzes Gespräch zwischen Death und Destiny, die sich um den Bruder Dream sorgen, für ein bisschen Humor mit dem Bibliothekar Lucien und Merv Pumpkinhead nimmt sich Gaiman auch die Zeit (die zahlreichen Nebenfiguren waren immer die wirklichen Träger der Serie) und dann gibt es ein produktionstechnisch interessant eingeführtes Vier-Seiten-Splash-Panel, das im Internet eine Spur zu fleißig gespoilert wird (Da man den Seitendesigns von Williams mit Ausschnitten nicht gerecht werden kann, habe ich mich bei der Bildauswahl sehr zurückgehalten, aber gut die Hälfte des Werkes kann man mit einer simplen Google-Bildersuche in teilweise erstaunlicher Auflösung im Netz finden). Und bei dem Williams zusammen mit dem Coloristen Dave Stewart und dem anerkannt weltbesten Letterer Todd Klein sämtliche Register ziehen, und im Grunde genommen war alles nur die Vorbereitung für einen Cliffhanger. Der bei so ziemlich jedem Leser funktionieren sollte. Das bahnbrechende ist das WIE. Zahlreiche Effekte und Tricks, die in der Zwischenzeit ersonnen wurden, bastelt Gaiman zielsicher mit ein, narrativ und was die Ausnutzung des Mediums angeht, kann mit Sandman Overture kaum jemand mithalten. Und wenn jetzt noch die eigentliche Geschichte einsetzt und Gaiman einen dabei ein klein wenig überrumpeln und verblüffen kann, dann könnte diese vermeintliche Geldschneiderei zu einem Höhepunkt werden, der an die besten Zeiten des Sandman (so Heft 5-30) heranreicht. Und man steht mit offenem Mund davor.