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Juli 2001
Thomas Vorwerk
für satt.org

Le fabuleux destin d'Amélie Poulain
Frankreich 2001
Dt. Titel:
Die fabelhafte Welt der Amélie

Jean-Pierre Jeunet: Die fabelhafte Welt der Amélie. Kino-Plakat.

Regie:
Jean-Pierre Jeunet

Buch:
Guillaume Laurant, Jean-Pierre Jeunet

Dialoge:
Guillaume Laurant

Kamera:
Bruno Delbonnel

Schnitt:
Céline Kelepikis

Musik:
Yann Tiersen

Darsteller:
Audrey Tautou (Amélie Poulain), Mathieu Kassovitz (Nino Quincampoix), Rufus (Raphael Poulain), Yolande Moreau (Madeleine Wallace), Dominique Pinon (Joseph), Isabelle Nanty (Georgette), Maurice Benichou (Bretodeau), Serge Merlin (Raymond Dufayel), Urbain Cancellier (Collignon), Jamel Debbouze (Lucien), Artus de Penguern (Hipolito), Michel Robin (Collignon sr.), Claude Perron (Eva), Peter Fricke (Erzählerstimme)

zur deutschen Amélie-Homepage

Le fabuleux destin d'Amélie Poulain
Die fabelhafte Welt der Amélie


Die Pariser Serviererin Amélie Poulain mag es, im Kino auf Kleinigkeiten zu achten, beispielsweise auf ein Insekt, das bei einer Szene von "Jules et Jim" im unscharfen Hintergrund auf einer Fensterscheibe zu erkennen ist. Als Filmkritiker fühlt man sich genötigt, ihr in diesem Punkt nachzueifern.

"Le fabuleux destin d'Amélie Poulain", der neue Film von Jean-Pierre Jeunet, beginnt mit der exakten Zeitangabe, bei der eine Schmeißfliege das Zeitliche segnet. Diese computergestützte, detailverliebte Szene erinnert den Betrachter weniger an Francois Truffaut als an "La cité des enfants perdues" (Stadt der verlorenen Kinder), den unbekanntesten Film des Regisseurs, der aber dennoch in manchen Kreisen kultisch verehrt wird. Dort gibt es die mit Miniatur-Überwachungsgerät ausgerüstete Kamerafliege, die für einige der stärksten Erinnerungsmomente sorgen.

Doch zurück zur Schmeißfliege, deren Tod nicht nur den Beginn des Ausflugs in Amélies Filmwelt markiert, sondern auch die Geburt der Titelfigur, denn genau im selben Moment, wo die Fliege unsanft entkörperlicht wird, wo irgendwo Gläser unbeobachtet im Wind tanzen und ein Mann den Namen seines verstorbenen Freundes aus dem Adressbuch radiert, trifft ein Spermium auf eine Eizelle, und das Leben der Amélie Poulain kann mit einer Zeitrafferaufnahme des sich aufblähenden Bauches der Mutter beginnen.

Um uns auf die spezielle Spermie unter den vielen wuselnden Konkurrenten hinzuweisen, benutzt der Film die gleiche (amerikanischen Sportübertragungen entlehnte) graphische Einkringelung wie in der Szene, wo wir auf Amélies scharfes Auge bei Kinobesuchen hingewiesen werden, und spätestens, wenn auch die Schlußeinstellung des Films an die ebenfalls zitierte, ungestüme Radfahrszene aus dem Truffaut-Klassiker erinnert, fühlt man sich inspiriert, das wenig beachtete Insekt aus "Jules et Jim" mit der virtuellen Spermie, dem Geistesblitz zu parallelisieren, aus dem der französische Publikumserfolg entstand.

Amelie: Ganz wild auf Himbeeren …Wenn wir während des Vorspanns die Jugend der Titelheldin abermals im Schnelldurchlauf erleben, erinnern nicht nur die eilig verzehrten Himbeeren an ein cineastisches Vorbild des Mädchen, Louis Malles Austern mampfende "Zazie dans le métro", ein Film, dessen skurriler visueller Einfallsreichtum Pate gestanden haben könnte für ein Paris, wie wir es mit den Augen der Kellnerin Amélie sehen. In Jeunets Paris sind die Wände sauber, die Plakate farbenfroh, hier birgt jeder Passbildautomat ungeahnte Geheimnisse, und hier taucht schon mal im richtigen Moment in einem Kellerfenster ein Souffleur auf, um Amélie die Worte vorzugeben, mit dem sie den garstigen Gemüsehändler in seine Schranken weisen kann: "Sie werden nie ein gutes Gemüse sein, denn sogar eine Artischocke hat ein Herz."

Amélie hat das Herz am richtigen Fleck. in einer bizarren Kausalitätskette sorgt etwa der Unfalltod von Prinzessin Diana dafür, daß ein alter Mann in einer Telefonzelle seine Kindheit wiederentdeckt. Der grießgrämige Exfreund (Dominique Pinot) von Amélies Kollegin wird mit der Zigarettenverkäuferin verkuppelt, der Gartenzwerg ihres Vaters (Rufus) wird auf Weltreise geschickt, ihrer Concierge spielt sie einen Jahrzehnte alten Liebesbrief zu, und einem Blinden verschafft sie durch ihre Fabulierkunst kurzzeitig wieder das Augenlicht. Doch nicht nur als Schutzengel der kleinen Leute, auch als Racheengel der Nachbarschaft ist die kulleräugige, nur für ihre Umwelt, aber nicht für den Kinozuschauer unscheinbare Gestalt unterwegs. So weiß sie, wie man eine spannende Fußballübertragung in eine nicht enden wollende Frustration verwandeln kann, oder sie verursacht in der Wohnung des bösen Gemüsehändlers gehörigen Schabernack, wenn sie Zahnpastatuben, Türklinken und Hausschuhe austauscht.

Doch während unsere liebenswerte Titelheldin bevorzugt Glücksfee spielt, bleibt ihr selbst zunächst das große Glück versagt, sie bleibt das Pendant zum "Mädchen mit dem Wasserglas", das zwar im Mittelpunkt steht, aber irgendwie "außen vor" bleibt, wie es ihr Nachbar (Serge Merlin) innerhalb von Auguste Renoirs "Das Frühstück der Ruderer" bei jeder seiner unzähligen Kopien des Gemäldes erneut zu ergründen sucht.

Mit flotten Pinselstrichen zaubert Regisseur Jeunet eine Welt auf die Leinwand, die so bunt (aber manchmal auch so zweidimensional) wie ein impressionistischer Comic ist. Eine digital nachbearbeitete hyperrealistische Traumwelt, in der Lampenschirme sich mit Bildern unterhalten, und in der Wolken wie Häschen oder Teddybären aussehen. Abgesehen von Jeunets eigenen Filmen wie "Delicatessen" sah man eine solch eindringlich farbenfrohe Vision im frankophonen Raum zuletzt in Jacques Demys "Le parapluies de Cherbourgh", der sich ebenfalls mit den kleinen Leuten befasste, oder in Jaco van Dormaels "Toto le heros", der eine ähnliche Perspektive auf das Leben aufweist. Spätestens eine Parade schwarzer Mönche ist ein direkter Verweis auf Tom Tykwers "Lola rennt". Ein Phänomen, das man überspitzt eine "Mythologie der Zufälle" nennen könnte, durchdringt auch die Bestseller der amerikanischen Schriftsteller Paul Auster und John Irving, wo zufällig erscheinende Schnappschüsse und Unfälle in ähnlicher Form wie in diesem ungleich optimistischeren Film die Schicksale der Protagonisten beeinflussen. Als Kind wird Amélie glauben gemacht, sie würde durch das Knipsen von Fotos Verkehrsunfälle erzeugen; da ist es nur angemessen, daß sie später durch einen Beinahe-Unfall in den Besitz eines Fotoalbums kommt, das sie mit Nino (Mathieu Kassovitz), einem Porno-Videothekar, der nebenbei in der Geisterbahn arbeitet, zusammenbringen wird, wenn ihr vorher nicht die Ideen ausgehen.

Regisseur Jeunet und Drehbuchautor Guillaume Laurant sorgen durch ihren visuellen wie verbalen Ideenreichtum für ein atemberaubendes Erzähltempo innerhalb eines quirlig-spritzigen Film, der ebensowenig zu bändigen scheint wie "Pottwal", Amélies suizidgefährdeter Goldfisch. "Die fabelhafte Welt der Amélie" ist wie ein Goldfischglas, schön anzusehen, aber im Gegensatz zu "Pottwal" sind die Filmemacher kaum daran interessiert, über den Rand ihres Wasserglases hinauszuschauen, obwohl sie das ohne Risiko hätten wagen können, denn Audrey Tautou, die 23jährige Hauptdarstellerin, die bisher nur in Tonie Marshalls "Vénus Beauté (Institut)" auffiel, ist ein wahrer Glücksgriff. In ihrer Entschlossenheit erinnert sie an die Rolle von Emily Watson in "Breaking the Waves", in ihrer Unbeholfenheit steht sie Amanda Plummer in "The Fisher King" in nichts nach, aber vor allem erweckt sie Reminiszenzen an die kindliche Naivität, die bezaubernde Unschuld ihrer Namensvetterin Audrey Hepburn. Jene spielte ja noch in ihrer letzten Rolle (in Spielbergs "Always") einen Engel. Und mit solch einem Schutzengel wie Audrey Tautou kann dem Film nichts Schlimmes passieren, auch das deutsche Publikum wird sich in Amélie verlieben.