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Oktober 2001
Thomas Vorwerk
für satt.org

Das süße Jenseits
(The Sweet Hereafter)
Kanada 1997

Atom Egoyan: Das süße Jenseits (The Sweet Hereafter)

Das süße Jenseits
(The Sweet Hereafter)

Buch und Regie: Atom Egoyan; Lit. Vorlage: Russell Banks; Kamera: Paul Sarossy; Schnitt: Susan Shipton; Musik: Mychael Danna; Darsteller: Ian Holm (Mitchell Stephens), Caerthan Banks (Zoe Stephens), Sarah Polley (Nicole Burnell), Tom McCamus (Sam Burnell), Gabrielle Rose (Dolores Driscoll), Bruce Greenwood (Billy Ansell), Arsinée Khanjian (Wanda Otto), Earl Patsko (Hartley Otto), Alberta Watson (Risa Walker) Maury Chaykin (Wendell Walker)

Nach zwei fehlgeschlagenen Versuchen, mir Filme von Egoyan im Fernsehen anzuschauen, ging ich ins Kino, um zu sehen, wie ein derartiger Außenseiter an eine Nominierung für den Regie-Oscar kommt …


 …und schon während des Vorspanns zog mich der Film voll in seinen Bann. Zu mitreißender Musik fährt die Kamera eine halbe Ewigkeit über eine Holzoberfläche, bis wir eine Familie auf dem Fußboden (auf dem eine Decke liegt) schlafen sehen. Ein Bild der Harmonie, doch aus dem Trailer weiß auch ich, daß es im Film um den Unfall eines Schulbusses geht, und somit ist es auch ein Bild des dräuenden Unheils, auch wenn ich noch nicht ahne, wo es lauert Szenenwechsel: Ein alter Mann (Ian Holm) fährt mit seinem Auto in eine Waschstraße. Ein faszinierendes Schauspiel, wie die meisten aus eigener Erfahrung wissen.

Noch nichts passiert, aber ich bin schon hin und weg.

Zur Story: Der Anwalt Mitchell Stevenson versucht einige der trauernden Eltern zu einer gemeinsamen Anzeige zu überreden. weniger wegen seiner des öfteren stimmungsvoll getragenen moralischen Verantwortung dafür, daß ein solches Unglück nicht wieder geschehen möge, oder der einfühlsamen Bemühungen, der Wut der Zurückgebliebenen eine Stimme zu verleihen, sondern wohl vor allem wegen seiner Provision von einem nicht unbeträchtlichen Teil des Streitwerts bei Gewinn des Prozesses. Doch man kann den hervorragenden Ian Holm nicht einfach nur verabscheuen, denn während des Films erfahren wir auch von seinem Schicksal.

Bei seinen Nachforschungen erfährt der Anwalt jedoch weit weniger über die Bewohner dieses Ortes als der Zuschauer dargeboten bekommt. In einer nicht chronologischen Abfolge von Alltagserlebnissen, die sich recht langsam zu einem schlüssigen Bild verweben (In etwa so wie bei Pulp Fiction oder Lone Star, nur noch besser), erfahren wir mehr über die Lebenden und die Toten, als uns lieb sein kann.

Die zweite Hauptfigur des Films ist das Mädchen Nichole (hervorragend: Sarah Polley), die beim Babysitten das Märchen vom Rattenfänger erzählt. Immer mehr erkennt man die Parallelen zwischen der Mär und dem Unglück. Die Stadt Hameln verliert ihre Kinder, weil die Erwachsenen zu sehr an ihrem Geld hängen, während die Eltern in Sam Dent versuchen, den Tod ihrer Kinder in bare Münze zu verwandeln. Und Nicholes Stimme erzählt die Geschichte gnadenlos zu Ende.

Diese Inhaltsangabe verrät nicht annähernd, was in diesem Film mit seinem hervorragenden Buch noch so geschieht, welche Personen und Schicksale wir beobachten dürfen/müssen. Allein das Bild von Zoe und dem Messer z.B. wird mir in all seiner Schönheit, Häßlichkeit und Dramatik wohl noch lange durch den Kopf spuken.

Und obwohl dieses Werk für mich schon jetzt als einer der Höhepunkte des Kinojahres feststeht, ist The Sweet Hereafter nicht unbedingt (aber vielleicht doch !) ein Film, den man sich mehrmals anschauen will, denn die kongeniale Übertragung starker, aber "negativer" Gefühle läßt einen mehr und mehr in den Kinosessel sinken. Trotzdem, dieses Erlebnis sollte man sich nicht entgehen lassen.