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Mai 2002
Martin Lhotzky
für satt.org

Ich bin Sam
I am Sam

USA 2001
132 Min.

I am Sam

Regie:
Jessie Nelson

Buch:
Kristine Johnson & Jessie Nelson

Kamera:
Elliot Davis

Darsteller:
Sean Penn (Sam Dawson), Michelle Pfeiffer (Rita Harrison), Dakota Fanning (Lucy), Dianne Wiest (Annie), Laura Dern (Randy)



Ich bin Sam
I am Sam


»Green Eggs and Ham« heißt das Buch von Dr. Seuss. Und das Buch handelt von Sam, der sich darin mit den Worten »I am Sam, Sam I am« oft in Erinnerung ruft und versichert, wie gern er grüne Eier und Schinken mag. Dr. Seuss, eigentlich Theodore Seuss Geis(s)el, der wahrscheinlich populärste und meistgelesene Kinderbuchautor in den Vereinigten Staaten, ist seit der Verfilmung eines seiner Hauptwerke »How the Grinch Stole Christmas« (USA 2000, Regie Ron Howard) mit Jim Carrey in der Titelrolle wahrscheinlich auf Jahre hinaus in Europa diskreditiert. Gut, daß er das nicht mehr miterleben mußte, er verstarb 1991. In den USA scheint sein Ruhm jedenfalls ungebrochen.

»Green Eggs and Ham« ist auch das Lieblingsbuch von Sam (Sean Penn) in Jessie Nelsons Film »Ich bin Sam«. Sam Dawning, der Titelheld, wird gleich zu Beginn Vater, doch die Mutter von Töchterchen Lucy Diamond (Sam mag auch John Lennon, und die Beatles überhaupt) verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Aber Sam hat noch ein anderes Problem: er ist geistig auf dem Entwicklungsstand eines Siebenjährigen zurückgeblieben. Rührend kümmert er sich um Lucy, doch irgendwann frägt sich auch die Jugendfürsorge, was wohl werden wird, wenn die Tochter das achte Lebensjahr erreicht. An ihrem siebten Geburtstag setzt daher folgerichtig die eigentliche Handlung ein, denn das Kind soll Sam weggenommen und zu Pflegeeltern (Laura Dern als bemühte Mutter) gegeben werden. Auch seine Freunde, eine Runde von vier skurrilen Typen in ähnlicher intellektueller Verfassung wie Sam, meinen, daß er sich das nicht gefallen lassen darf, und so wendet er sich an die Topanwältin Rita Harrison (Michelle Pfeiffer). Spätestens seit »Rain Man« (USA 1988, Tom Cruise und Dustin Hoffman unter der Regie von Barry Levinson) gaukelt die Filmindustrie dem Publikum ein Wissen und eine Fürsorge um Behinderungen vor und man glaubt auch zu wissen, wie sich geistig Behinderte, im speziellen Falle Menschen mit autistischen Störungen verhalten: genau wie Raymond alias Dustin Hoffman und die meisten schaffen es ganz natürlich und ganz ohne Betreuung durchs Leben. In einigen wenigen Streifen, die auch ein breiteres Publikum ansprachen, zum Beispiel in »Awakenings / Zeit des Erwachens« (USA 1990, mit Robin Williams und Robert de Niro, Regie: Penny Marshall), wurde das Problem bis zum Ende durchgedacht, und schon sah die Sache nicht mehr so fröhlich aus.

Zu offensichtlich an Dustin Hoffmans Rain Man wurde Sean Penns Rolle, möglicherweise allerdings sogar unbeabsichtigt, angelehnt. Wenn er, noch bevor man sein Gesicht zum ersten Mal sieht, Zucker-, Süßstoff- und Teepäckchen penibel auf den Tischen im Diner (Starbucks, welches sonst?), in dem er jobbt (arbeiten kann man seine Tätigkeit nicht guten Gewissens nennen) ordnet, weiß der Betrachter eigentlich schon, woher der Wind weht.

»I am Sam« dreht das Rad aber noch weiter, denn ohne die Schwierigkeiten deutlich anzusprechen, arbeitet Jessie Nelson hauptsächlich auf der Gefühlsebene und drückt auch mitunter heftig auf die Tränendrüse. Selbstverständlich ist auch die so erfolgreiche Staranwältin gerade in einer Beziehungskrise (mit leicht angedeuteter Bulimie) und hat Schwierigkeiten mit dem Nachwuchs, die Angestellten des Jugendamtes wollen so gar keine Rücksicht auf Blutsbande nehmen (heilige Familienwerte) und bei der Vormundschaftsverhandlung für Lucy bringt der gegnerische Anwalt auch die nette Nachbarin und Musiklehrerin im Ruhestand Annie (eine großartig agierende Dianne Wiest) zum Weinen.

Während die schauspielerischen Leistungen insgesamt im besseren Drittel angesiedelt werden müssen, und die Filmmusik mit ihren Beatles-Neuinterpretaionen (unter anderem von Heather Nova »We Can Work It Out« oder Nick Cave »Let It Be«) Erstaunliches bietet, lahmt der Film doch an der fast immer vorhersehbaren Entwicklung der Handlung und spielt selbstverliebt mit der Spekulation auf ein Übermaß an Tränenflüssigkeit beim Publikum. Selbst die Frage, ob nicht doch Michelle Pfeiffer und Sean Penn einander finden könnten, bleibt höchstens zwei Sekunden und einen Blick auf das halbverdunkelte Gesicht des Sitznachbarn im Kopf des Zusehers.

Unwahrscheinlicher noch als »Kramer gegen Kramer« (USA 1979, Regie Robert Benton; mit Meryl Streep; sehr viele Dustin Hoffman Vergleichsfilme) kommt auch das Ende daher. Wenn man nicht unbedingt einen Film fürs Gemüt mit nicht besonders aufdringlichem, aber doch permanent vorhandenem Pathos sehen will, kann man »I Am Sam« getrost an sich vorüberziehen lassen.