Chicago USA 2002
Regie: Rob Marshall
Buch: Bill Condon, nach
dem Musical von
John Kander, Fred
Ebb und Bob Fosse
Kamera: Dion Beebe
Schnitt: Martin Walsh, Scott Richter
Musik: John Kander, Danny Elfman
Darsteller: Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones, Richard Gere, Queen Latifah, John C.Reilly, Christine Baranski, Lucy Liu
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Wettbewerb (außer Konkurrenz)
Chicago
Sabbern ist geil
"Chicago" eröffnet die Berlinale mit gelungenen Bildern und wilder Musik; die üblichen Verdächtigen der deutschen Kulturszene produzieren warme Luft.
- Vorweg: Wer eine Filmkritik schreibt, sollte sich nach Peter Handke an
ganz einfache Regeln halten. So schreibt Handke in seinem Journal
"Mündliches und Schriftliches. Zu Büchern, Bildern und Filmen" über den
Filmkritiker Helmut Färber:
"Helmut Färbers Beschäftigung mit dem
Handwerkzeug der Filme ist keine flüchtige Neugier, sondern ein beständiges
Interesse, ein beharrliches Bei-der-Sache-Bleiben, ein Teil seines
Verstehens, welches er auch darum so fruchten lassen kann, wie, jedenfalls
in Deutschen, kein zweiter. Wie wäre es zu wünschen, würden die Leute,
die heutzutage was zu Filmen sagen, bei den treusorglich liebevollen
Beschreibungen, Auflistungen, Archivierungen, Archäologisierungen Färbers,
der tausend Apparate, Gerätschaften, Helferdinge, Helfermenschen für einen
einzigen Film jahrlang zur Schule gehen; wie würden ihre blödlässigen
ahnungslosen Kintoppvisagen, wie würde ihre von keinerlei Augenzeugenschaft
beleckte Cineastenhoffart 'sich umformen' (ein häufiges Wort bei Färber) in
etwas ganz anderes, welche sie erst zum Kritikmachen in meines Freundes
Sinn befähigte: 'wachrufen die Selbsterkenntnis des Kunstwerkes'."
- Fürwahr große Worte zum Einstieg, aber mit eben diesem Peter Handke
werden wir auch enden. So haben wir nicht ohne Grund, erst den Film
geschaut und dann die Aufmacherkritik im Tagesspiel (vom 06.02.2003) von
Hellmuth Karasek gelesen. Der Mann, der ja durch seine feuchte Aussprache,
aber auch als Oberkellner von Herrgott Reich Ranicki, der
Medienöffentlichkeit bekannt geworden ist. Herr Karasek untersucht also die
Wirkung des Musicals auf der Bühne wie auf der Leinwand. Er kommt zu dem
Schluss:
"Rob Marshalls Brodway-Musical-Verfilmung ist für acht Golden
Globes nominiert, wird also voll in die Kassen schlagen. Und es ist
ausdrücklich gegen Webbers Endlos-Theaterschleifen in die Kinos gerückt:
Kommt zurück ins Kino die ihr musical-selig und beladen seid!"
Dagegen ist nichts zu sagen, würde man nicht den Erkenntnisspeichel des
Herrn fließen sehen. Richtig ist, dass die Schauspieler in "Chicago" - Renee
Zellweger, Catherine Zeta-Jones, Richard Gere und Queen Latifah - brillanter
singen, tanzen und spielen, als jene zweitrangigen Darsteller, welche sich
auf den deutschen Musical-Bühnen austoben dürfen. Und, weil Herr Karasek ja
feststellt: "wir leben ja ohnehin in einer Zeit neuer Tugenden, und wenn
uns aus unseren Media-Märkten der selbstbewusste Slogan 'Geiz ist geil'
entgegentönt", dann wollen wir feststellen, eine Kinokarte ist vielfach
günstiger als ein Ticket für ein Musical.
- Der Film selbst erzählt die Geschichte der wilden und korrupten 20er
Jahre in Chicago. Zwei Frauen, die alles darum geben als Varieté-Star
Diven zu werden und schließlich wegen Mordes im Gefängnis landen. Dort gibt
es die käufliche Aufseherin Mama Morton (Queen Latifah) und den Staranwalt
Billy Flynn (Richard Gere). Erst zeigt die bereits berühmte Velma Kelly
(Caterhine Zeta-Jones) der noch unbekannten Roxie Hart die kalte Schulter,
dann rollt die PR-Maschine von Billy Flynn an. Plötzlich ist Roxie ein Star
und Velma eine vergessene Schönheit. Hier wird das Zusammenspiel von Show,
Medien, Geld und Eitelkeit sehr schön herausgespielt. Herr Karasek stellt
dann auch besorgt fest:
"Das muss man Hollywood lassen: Es weiß wovon es
redet, tanzt und singt! …dann wissen die beiden ins Gefängnis-Elend
getretenen Männerkillerinnen: 'Hass ist geil'."
Nun wer sich auf der Berlinale umschaut und all die Wichtigtuer sieht,
wobei die unwichtigsten am meisten tun, ahnt es: Da steht kaum einer denen
aus Hollywood nach, schon gar nicht unser Hellmuth.
- Nicht ohne meinen Schlingensief: Berlins liebster Politclown quälte sich
auch auf die Berlinale-Eröffnung. Vielleicht gab es kein
Terror-Verhinderungs-Konzept, wie von ihm letzte Woche im eben selben
Tagesspiegel-Interview beschworen. Kunst verhindert den Terroristen in uns.
Oder so ähnlich. Also sagte der wilde Schlingensief brav und wild in die
ZDF-Kamera: Der Film sei total langweilig, so was von langweilig,
langweiliger geht es gar nicht. Ja, Herr Schlingensief, was wollen wir
denn: Terror verhindern oder gute Unterhaltung.
- Die für mich schönste Stelle in dem gut bebilderten Streifen war die
Hinrichtung einer mittellosen Ungarin. Hier wurde eine Tanzszene des
sterbenden Schwans mit der Hinrichtung am Galgen verschnitten. Kunst und
Kommerz - Armut und die Todesstrafe werden sehenswert aufeinander
losgelassen. Hellmut Karasek meint:
"Der zynische Gipfel ist die
Hinrichtung einer Frau am Galgen, die mit einer Varieté-Nummer
verschnitten ist, in der eine Artistin sich mit einem Seiltrick in Luft
auflöst". So zynisch ist die Welt in der wir leben nun einmal, Herr
Karasek. Wie anders sind die Seiltricks des Herrn Rumsfeld zu verstehen,
oder die Tatsache, daß die Kölschen Jecken auf alle Fälle Karneval feiern,
auch wenn ein Krieg ausbricht.
- Die Frage nach der Gerechtigkeit der Justiz stellt sich natürlich in
diesem Film, sie war schon immer ein beliebtes Filmthema. Um ein letztes
mal Hellmuth Karsaek zu zitieren:
"Das Musical ist endlich beim Sadismus
und Nihilismus von Brechts/Weills 'Dreigroschenoper' angekommen - ohne
Brechts gesellschaftliche Konsequenzen, versteht sich."
Das liest sich gut, wenn der Großkritiker hier von einem amerikanischen
Musical etwas erwartet, was z. B. Brechts "Nachfolger" als Intendant am
Berliner Ensemble, der feine Herr Peymann, in der derzeitigen Mutter-Inszenierung nicht einmal auf die Höhe der Gegenwartskunst bekommt.
- Peter Handke bietet uns da eine glaubwürdigere und verwirrendere
Verklärung an, in seinem Text über das Den Haager Kriegsverbrechertribunal:
"Jemand, gefragt, ob ihm noch über etwas die Tränen kämen, gab zur Antwort: JA, aber nur noch in den Filmen. Und er fügte hinzu: Es ist Zeit, endlich
wieder außerhalb der Kinos zu weinen, in der Wirklichkeit. Aber die
Wirklichkeit, gibt's die denn noch?"
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