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Februar 2003
Andreas Geil
für satt.org

Chicago
USA 2002

Chicago (Regie: Rob Marshall)

Regie:
Rob Marshall

Buch:
Bill Condon, nach dem Musical von John Kander, Fred Ebb und Bob Fosse

Kamera:
Dion Beebe

Schnitt:
Martin Walsh, Scott Richter

Musik:
John Kander, Danny Elfman

Darsteller:
Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones, Richard Gere, Queen Latifah, John C.Reilly, Christine Baranski, Lucy Liu

Internationale Filmfestspiele Berlin

Wettbewerb (außer Konkurrenz)

Chicago



Sabbern ist geil

"Chicago" eröffnet die Berlinale mit gelungenen Bildern und wilder Musik; die üblichen Verdächtigen der deutschen Kulturszene produzieren warme Luft.

  1. Vorweg: Wer eine Filmkritik schreibt, sollte sich nach Peter Handke an ganz einfache Regeln halten. So schreibt Handke in seinem Journal "Mündliches und Schriftliches. Zu Büchern, Bildern und Filmen" über den Filmkritiker Helmut Färber:
    "Helmut Färbers Beschäftigung mit dem Handwerkzeug der Filme ist keine flüchtige Neugier, sondern ein beständiges Interesse, ein beharrliches Bei-der-Sache-Bleiben, ein Teil seines Verstehens, welches er auch darum so fruchten lassen kann, wie, jedenfalls in Deutschen, kein zweiter. Wie wäre es zu wünschen, würden die Leute, die heutzutage was zu Filmen sagen, bei den treusorglich liebevollen Beschreibungen, Auflistungen, Archivierungen, Archäologisierungen Färbers, der tausend Apparate, Gerätschaften, Helferdinge, Helfermenschen für einen einzigen Film jahrlang zur Schule gehen; wie würden ihre blödlässigen ahnungslosen Kintoppvisagen, wie würde ihre von keinerlei Augenzeugenschaft beleckte Cineastenhoffart 'sich umformen' (ein häufiges Wort bei Färber) in etwas ganz anderes, welche sie erst zum Kritikmachen in meines Freundes Sinn befähigte: 'wachrufen die Selbsterkenntnis des Kunstwerkes'."
  2. Chicago (Regie: Rob Marshall)Fürwahr große Worte zum Einstieg, aber mit eben diesem Peter Handke werden wir auch enden. So haben wir nicht ohne Grund, erst den Film geschaut und dann die Aufmacherkritik im Tagesspiel (vom 06.02.2003) von Hellmuth Karasek gelesen. Der Mann, der ja durch seine feuchte Aussprache, aber auch als Oberkellner von Herrgott Reich Ranicki, der Medienöffentlichkeit bekannt geworden ist. Herr Karasek untersucht also die Wirkung des Musicals auf der Bühne wie auf der Leinwand. Er kommt zu dem Schluss:
    "Rob Marshalls Brodway-Musical-Verfilmung ist für acht Golden Globes nominiert, wird also voll in die Kassen schlagen. Und es ist ausdrücklich gegen Webbers Endlos-Theaterschleifen in die Kinos gerückt: Kommt zurück ins Kino die ihr musical-selig und beladen seid!"
    Dagegen ist nichts zu sagen, würde man nicht den Erkenntnisspeichel des Herrn fließen sehen. Richtig ist, dass die Schauspieler in "Chicago" - Renee Zellweger, Catherine Zeta-Jones, Richard Gere und Queen Latifah - brillanter singen, tanzen und spielen, als jene zweitrangigen Darsteller, welche sich auf den deutschen Musical-Bühnen austoben dürfen. Und, weil Herr Karasek ja feststellt:
    "wir leben ja ohnehin in einer Zeit neuer Tugenden, und wenn uns aus unseren Media-Märkten der selbstbewusste Slogan 'Geiz ist geil' entgegentönt",
    dann wollen wir feststellen, eine Kinokarte ist vielfach günstiger als ein Ticket für ein Musical.

  3. Chicago (Regie: Rob Marshall)Der Film selbst erzählt die Geschichte der wilden und korrupten 20er Jahre in Chicago. Zwei Frauen, die alles darum geben als Varieté-Star Diven zu werden und schließlich wegen Mordes im Gefängnis landen. Dort gibt es die käufliche Aufseherin Mama Morton (Queen Latifah) und den Staranwalt Billy Flynn (Richard Gere). Erst zeigt die bereits berühmte Velma Kelly (Caterhine Zeta-Jones) der noch unbekannten Roxie Hart die kalte Schulter, dann rollt die PR-Maschine von Billy Flynn an. Plötzlich ist Roxie ein Star und Velma eine vergessene Schönheit. Hier wird das Zusammenspiel von Show, Medien, Geld und Eitelkeit sehr schön herausgespielt. Herr Karasek stellt dann auch besorgt fest:
    "Das muss man Hollywood lassen: Es weiß wovon es redet, tanzt und singt! …dann wissen die beiden ins Gefängnis-Elend getretenen Männerkillerinnen: 'Hass ist geil'."
    Nun wer sich auf der Berlinale umschaut und all die Wichtigtuer sieht, wobei die unwichtigsten am meisten tun, ahnt es: Da steht kaum einer denen aus Hollywood nach, schon gar nicht unser Hellmuth.

  4. Nicht ohne meinen Schlingensief: Berlins liebster Politclown quälte sich auch auf die Berlinale-Eröffnung. Vielleicht gab es kein Terror-Verhinderungs-Konzept, wie von ihm letzte Woche im eben selben Tagesspiegel-Interview beschworen. Kunst verhindert den Terroristen in uns.
    Oder so ähnlich. Also sagte der wilde Schlingensief brav und wild in die ZDF-Kamera: Der Film sei total langweilig, so was von langweilig, langweiliger geht es gar nicht. Ja, Herr Schlingensief, was wollen wir denn: Terror verhindern oder gute Unterhaltung.

  5. Die für mich schönste Stelle in dem gut bebilderten Streifen war die Hinrichtung einer mittellosen Ungarin. Hier wurde eine Tanzszene des sterbenden Schwans mit der Hinrichtung am Galgen verschnitten. Kunst und Kommerz - Armut und die Todesstrafe werden sehenswert aufeinander losgelassen. Hellmut Karasek meint:
    "Der zynische Gipfel ist die Hinrichtung einer Frau am Galgen, die mit einer Varieté-Nummer verschnitten ist, in der eine Artistin sich mit einem Seiltrick in Luft auflöst".
    So zynisch ist die Welt in der wir leben nun einmal, Herr Karasek. Wie anders sind die Seiltricks des Herrn Rumsfeld zu verstehen, oder die Tatsache, daß die Kölschen Jecken auf alle Fälle Karneval feiern, auch wenn ein Krieg ausbricht.

  6. Die Frage nach der Gerechtigkeit der Justiz stellt sich natürlich in diesem Film, sie war schon immer ein beliebtes Filmthema. Um ein letztes mal Hellmuth Karsaek zu zitieren:
    "Das Musical ist endlich beim Sadismus und Nihilismus von Brechts/Weills 'Dreigroschenoper' angekommen - ohne Brechts gesellschaftliche Konsequenzen, versteht sich."
    Das liest sich gut, wenn der Großkritiker hier von einem amerikanischen Musical etwas erwartet, was z. B. Brechts "Nachfolger" als Intendant am Berliner Ensemble, der feine Herr Peymann, in der derzeitigen Mutter-Inszenierung nicht einmal auf die Höhe der Gegenwartskunst bekommt.

  7. Peter Handke bietet uns da eine glaubwürdigere und verwirrendere Verklärung an, in seinem Text über das Den Haager Kriegsverbrechertribunal:
    "Jemand, gefragt, ob ihm noch über etwas die Tränen kämen, gab zur Antwort:
    JA, aber nur noch in den Filmen. Und er fügte hinzu: Es ist Zeit, endlich wieder außerhalb der Kinos zu weinen, in der Wirklichkeit. Aber die Wirklichkeit, gibt's die denn noch?"