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Februar 2003
Thomas Vorwerk
für satt.org

Ten Minutes Older - The Trumpet
D/GB 2002

Ten Minutes Older - The Trumpet

Regie:
Aki Kaurismäki, Victor Erice, Werner Herzog, Jim Jarmusch, Wim Wenders, Spike Lee, Chen Kaige

Musik:
Paul Englishby, Hugh Masekela (Trompete)

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Ten Minutes Older
The Trumpet


Schon wieder ein Episodenfilm. Und mit "The Cello" soll demnächst auch noch ein Nachschlag zum selben Thema kommen. Das da wäre: Wie können 10 Minuten eine Welt verändern? Selbstfreilich sind auch die Filme dazu immer nur 10 Minuten lang, und sie werden von einigen mit Trompetenklängen unterlegten Wasserimpressionen und den überdimensional aufgeblasenen Unterschriften der Regisseure, die wie Flußläufe abgefahren werden, verbunden.


Dogs have no Hell
(Regie und Buch: Aki Kaurismäki, mit Markku Peltola, Kati Outinen, Marka Haavisto, Ja Poutahaukat)

Aki Kaurismäki- Kaurismäkis Beiträg leidet ein wenig unter dem Format. Ein Straftäter wird aus der Haft entlassen, und die Frage ist, ob er sich in zehn Minuten vor einen Zug werfen wird oder mit selbigen und der Frau seiner Träume in Richtung Zukunft aufmachen wird. Mit denselben Hauptdarstellern wie der "Mann ohne Vergangenheit" wird eine ähnliche Atmosphäre aufgebaut, aber schon dadurch, daß sich der Zuschauer bei der ersten Episode noch nicht relaxen konnte, vermisst man an manchen Stellen die für den Finnen so typische entspannte Langsamkeit. Die Uhr läuft mit, dauernd sind auch Uhren zu sehen, und dadurch erfährt der Film eine gewisse Dringlichkeit, die einer Spannungsdramaturgie ähnelt. Was ja für den Beginn einer solchen Filmsammlung ganz energievoll sein könnte, aber bei Kaurismäki zumindest ungewohnt erscheint.

Lifeline
(Regie und Buch: Victor Erice, mit Ana Soria Liano, Pelayo Suarez, Celia Poo, Jose Antonia Arnieva, Fernando Garcia Toriello)

Victor Erice- Der mir unbekannte Spanier lässt sich da schon mehr Zeit, eine Narration zu entwickeln. In seinem Schwarz-Weiß-Film wundert man sich zunächst mal, was eigentlich passiert. Eine Frau und ein Kind beim Mittagsschlaf. Auf einem weißen Stoff breitet sich ein dunkler Fleck, wahrscheinlich Blut aus. Doch niemand bemerkt dies, stattdessen sehen wir diverse Personen bei unterschiedlich belanglosen Aktivitäten. Zunächst fragt man sich, inwiefern die Narration einem vielleicht Flashbacks darbietet, man versucht unter den Figuren die sehr viel jüngere Mutter oder vielleicht das älter gewordene Kind zu entdecken. Doch immer wieder der Blutfleck, schließlich auch eine Schlange, die sich symbolüberfrachtet an einem Apfel vorbeiwindet. Schließlich wird klar, daß es der kleine Bub ist, der zu verbluten droht, doch Minute um Minute scheint alle Welt besseres zu tun zu haben, bis ein Schrei die Stille zerreißt.
    Dadurch, daß er ein Kind in eine gefährliche Situation versetzt, betont Erice natürlich die Bedeutung für die Zukunft. Wäre der Häftling bei Kaurismäki zu Tode gekommen, hätte es außer für ihn kaum jemanden etwas ausgemacht, doch mit einem Kind kann eine völlig neue Welt sterben, und diese Dramatik weiß der Spanier auch auszunutzen, auch wenn sich sein Film vor allem in Symbolen und Allegorien ergeht. Die klare Schwarz-Weiß-Photographie (die wir in drei der sieben Filme erleben werden) verleiht dem Film eine Art nostalgische Bedeutung, die noch durch eine Photographie unterstützt wird. Den Namen des Regisseurs werde ich mir merken müssen.

Ten Thousand Years Older
(Regie und Buch: Werner Herzog)

Werner Herzog- Herzog schildert in einem Dokumentarfilm, wie das vielleicht letzte Naturvolk (ein brasilianischer Indianerstam) von der modernen Zivilisation aufgestöbert wird, und sich dessen Welt in kürzester Zeit drastisch verändert. Jedoch nicht in zehn Minuten, denn Herzog überspringt diverse Jahre und bricht die Regeln auch dadurch, daß er teilweise altes Material mit neu gedrehten Szenen verbindet. Das Schicksal der Indianer und wie die Folgegeneration schon lieber in die Stadt zieht als schnell vergessene Rituale zu pflegen, ist ganz interessant, aber daraus hätte man sicher mehr machen können.

Int. Trailer. Night
(Regie und Buch: Jim Jarmusch, Musik: Goldbach-Variationen in der Version von Glenn Gould, mit Chloe Sevigny)

Jim Jarmusch- Jarmusch zeigt die Lakonie, die wir bei seinem finnischen Zwillingsbruder Aki vermissten. Eine Schauspielerin hat eine zehnminütige Drehpause und versucht in ihrem Trailer, bei Musik zu entspannen, mit ihrem Freund zu telefonieren und etwas zu essen. Doch stattdessen kommt u.a. anderem der Tonmann und greift ihr tief ins Dekollete, um den Sitz des Mikros zu überprüfen. Wie auch Wenders macht geschickt Gebrauch von der Musik, die ja auch die Filme verbindet. Und irgendwie gelingt es ihm, so gar nicht gehetzt zu wirken. man ahnt zwar, daß weder die Schauspielerin noch der Zuschauer sich bei den Klängen von Glenn Gould entspannen werden wird, und schnell wird klar, daß eine Unterbrechung die nächste jagen wird, doch Jarmsuch ist dabei im Gegensatz zu Kaurismäki immer zwei beats hinter der zeit, er nutzt die zehn Minuten, um einen zwar etwas wenig aussagekräftigen, aber perfekt funktionierenden Film zu gestalten. Und durch den Titel wird das Thema der Irrealität der Filmwelt einer Filmschauspielerin jenseits der Kamera noch abermals gebrochen.

Twelve Miles to Trona
(Regie und Buch: Wim Wenders, mit Charles Esten, Amber Tamblyn)

Wim Wenders- Der Beitrag von Wenders hat mich am meisten verzückt. Ein Mann in Luxuslimousine hält vor einer Klinik, um festzustellen, daß sie an diesem Tag geschlossen ist. Nun macht er sich auf nach "Trona", und es wird schnell klar, daß er sich beeilen muß. Zunächst dachte ich, er bekämpfe die Symptome einer immensen Müdigkeit, wozu er ähnliche Mittel verwendete, wie auch ich sie bei nächtlichen Autobahnfahrten einzusetzen pflege, bis die nächste Raststätte und die Chance zu etwas "Shut-Eye" gegeben ist. Er singt lauthals mit zu den Klängen seiner Stereoanlage und dreht das Fenster runter. Doch schnell wird durch die visuellen Verzerrungen und den Off-Kommentar klar, daß der Herr wegen einer Überdosis das Krankenhaus schnell erreichen will.
    Im Faltblatt zum Film räumt Wenders ein, er "fürchte", der Film sei autobiographisch inspiriert. Was vielleicht erklärt, wie sehr es ihm gelang, die Situation mit ebenso erschreckenden wie faszinierenden Bildern einzufangen. Ein besonderes Schmankerl für mich war, daß ich die beiden Songs von den Eels kenne, die die Geschichte begleiten und auch kommentieren. "Souljacker, Part I" und "Woman Driving, Man Sleeping" sind zwar auf meiner CD in umgekehrter Reihenfolge vertreten, aber trotzdem verschaffte diese Musikauswahl dem Film eine zusätzliche Realität und aus der Musik entstehende Dramaturgie. Allein diese Episode war für mich Grund genug für einen Kinobesuch. Und die anderen sind ja auch nicht schlecht.

We wuz robbed
(Regie: Spike Lee)

Spike Lee- In seinem seltsam entfärbten Dokumentarfilm schildert Spike Lee den Betrug bei der letzten US-Wahl. Unzählige Zeugen werden befragt, und durch eine etwas plakative und gehetzte Inszenierung entsteht das Bild einer skandalösen Medienmanipulation mit dem Resultat Bush. Dadurch, daß Lee teilweise ähnliche Mittel einsetzt wie die von ihm angeklagten Parteien, erhält der Film einen seltsamen Beigeschmack, aber interessant ist es allemal, was dieser kontroverse Regisseur hier aufzudecken versucht.

100 Flowers Hidden Deep

(Regie: Chen Kaige, mit Feng Yuanzheng, Gen Le, Li Quiang, Zhang Jin, Wang Shojun, Feng Feng)

Chen Kaige- Chen Kaige zeigt uns (mal wieder), wie sich Beijing verändert hat. Ein zerstreuter alter Mann beauftragt ein Umzugsunternehmen, ihm behilflich zu sein, doch sein Haus existiert nur noch in seiner Vorstellung. Die Möbelpacker lassen sich auf den einfachen Job ein, unsichtbare Gegenstände einzuladen, lassen jedoch unachtsam eine Vase fallen. Der Schluß des Films zeigt uns die Welt des alten in einer Computer-Animation, der mancher "unsäglich" findet, ich jedoch ebenso angemessen wie poetisch empfand.

Im Gespräch mit anderen Filmfreunden fand ich schnell heraus, daß man unterschiedliche Episoden zu seinen Lieblingen zählt, doch abgesehen von einigen Berufskritikern bereute niemand den Kinobesuch. Wenn "The Cello" nur halbwags einlöst, was dieser Film verspricht, kann man sich auch darauf bereits freuen.