Erweitertes Kino
Die Wiener Filme der 60er Jahre
Dieses sehr empfehlenswerte Buch widmet sich, wie der Titel schon sagt, der (Weiter)Entwicklung des experimentellen Films, der ja in Wien in den sechziger Jahren einerseits eine große Rolle spielte, andererseits sowohl Bezüge zur Vergangenheit der Lichbildkunst als auch zu einer möglichen Zukunft herstellte.
Insofern stehen die Filme, steht die Entwicklung auch als Symbol einer Zeit des Aufbruchs, einer Zeit der Suche nach (neuen) Formen und Ausdrucksmöglichkeiten. Ein Rückblick in diese FilmGeschichten ist also ein Stück Kunstgeschichte, das in Wien ein wesentliches Standbein hatte.
Es geht hier um die Geschichte einer Bewegung, also um eine Geschichte aller (soweit möglich) ihrer Teile und Impulse. Es geht um die Verknüpfungen, die Zusammenhänge sowohl zwischen einzelnen künstlerischen Effekten und Reflexen als auch zwischen den einzelnen Personen. So hat etwa Ferry Radax Texte von Konrad Bayer verwendet, Peter Kubelka mit Arnulf Rainers Bildern gearbeitet, so haben Gerhard Rühm und Marc Adrian Schrift-Filme entworfen und hergestellt, also die "konkrete Dichtung" Film werden lassen. Valie Export hat mit ihrem "tapp und tastkino" den Film von der Leinwand befreit und zur Aktion werden lassen, Hans Scheugl selbst hat in "zzz: hamburg special" den Film vom Celluloid befreit und einen durch den Projektor gezogenen Zwirnfaden zum SpielFilm werden lassen (wodurch der Vorführer, die Vorführerin an der Entstehung des Kunstwerks aktiv mitwirkte).
Die Begegnungen zwischen Wiener Gruppe, Wiener Aktionismus und eben jenen von Hans Scheugl beschriebenen "Wiener Filmen" brachte ein unglaubliches Repertoire an Ideen, Aktionen und Kommentaren, Zugangsweisen und Reflexionen zu verschiedenen Aspekten des Films als Medium und Botschaft, zu Kunst als Wirklichkeit, als Eingriff in die Wirklichkeit und dessen Kommentar.
Interessant auch die Berichte über Organisation einer gemeinsam arbeitenden Gruppe und das Nachzeichnen der sich ergebenden Konflikte. Es sind Konflikte, die u.a. aus der gesellschaftlichen Randständigkeit herrühren, die einerseits durchaus mit zum künstlerischen Programm gehört (Infragestellung des "herrschenden" Kunstbegriffs und Kunstbetriebs), andererseits finanzielle Beschränkung der Produktionsmöglichkeiten, aber auch des eigenen alltäglichen Lebens bedeutet: ein immer noch und wieder aktueller Beitrag zur immerwährenden Diskussion über die Aufgabe und Pflicht der öffentlichen Hand, Kunst finanziell zu fördern, um die Rahmenbedingungen für eine beständige kritische und zugleich ästhetische Untersuchung der Wirklichkeit zu verbessern.
Glücklich jene Leserin, jener Leser, die Hans Scheugl bereits von seinem wunderbaren Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms kennen: diese "Subgeschichte des Films" (geschrieben gemeinsam mit Ernst Schmidt junior, seit langem vergriffen und bisher nicht neu aufgelegt) erschien im Jahr 1974.
Das vorliegende Buch fokussiert auf den Wiener Avantgardefilm und seine wichtige Rolle in der Geschichte der Kinoexperimente. Es geht um ein Stück Filmgeschichte, das einerseits sehr spannend, andererseits aber auch sehr unterhaltsam ist und so manches historische Detail aus dem Leben großer Künstler und Künstlerinnen in Erinnerung ruft: Wer etwa weiß (noch), dass H.C. Artmann im Mai 1955 eine Unterschriftenaktion gegen die Wiedereinführung des Heeres in Österreich initiierte?