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In den 60ern gab es die "Wild Angels", zu denen auch die großen Brüder zweier unserer Hauptfiguren zählten. Buscapé und Bené reagieren ganz unterschiedlich auf das schlechte Vorbild, das die großen Brüder liefern, und ausgerechnet das halbwüchsige "Löckchen" (später "Locke") wird schon früh den Weg, den die Siedlung einschlagen wird, vorgeben. Den Inhalt des Films wiederzugeben zu versuchen, würde ihm nicht gerecht werden, denn auch wenn die Drehbuchautoren die Romanvorlage von Paulo Lins schwer zusammenstutzen mussten, das Endresultat besteht immer noch aus unzähligen Handlungssträngen, und gerade wie der Film seine Geschichte langsam entfaltet, macht aus "City of God" ein Meisterwerk, das selbst "Amores Perros" blass erscheinen lässt. Denn Regisseur Fernando Meirelles erschöpft sich nicht nur darin, den Zuschauer in einen Sog von Ereignissen und Emotionen hereinzuziehen, er zieht auch alle Register narrativer Erzählkunst, er führt geradezu vor, was heutzutage im Film alles möglich ist. Die Geschichte springt zwischen den Jahrzehnten hin und her, man kann dies als Zuschauer ähnlich wie bei Soderbergh (aber ungleich subtiler) etwa durch unterschiedliche Aufnahmestile (beispielsweise in den 60ern staubig wie in einem Spaghetti-Western) und varierende Montagetechniken (zunächst klassisch, später immer freier) unterscheiden, aber natürlich auch durch die Bauten, Modestile oder den Soundtrack. (In dieser Hinsicht kann es der Film ohne weiteres mit Filmen wie "Carlito’s Way" oder "Summer of Sam" aufnehmen.) Nach dem ersten fulminanten Sprung von der Jetzt-Zeit der Erzählung in die Jugend Buscapés (eine schwindelerregende Kreisfahrt wie in "The Matrix") tänzelt die Geschichte immer wieder nach vorne und zurück, Nebenfiguren, die später eine Rolle spielen werden, werden schon mal am Rande erwähnt, manche Zusammenhänge erschließen sich erst schleichend, aber dabei ist der Zuschauer nie überfordert, weil die Inszenierung immer auf der Höhe ist, und man die Personen auch dann ohne Probleme auseinanderhalten kann, wenn sie in unterschiedlichem Alter von verschieden Darstellern porträtiert werden. Und als wäre die Geschichte noch nicht Grund genug, diesen Film zu lieben, nimmt uns der Regisseur mit auf eine Tour de Force der cinematischen Ausdrucksmittel. Die unterschiedlichen Farbtöne wurden schon erwähnt, teilweise wurden auch andere Filmmaterialien benutzt, doch im Gegensatz zu einem Film wie "Natural Born Killers", der es auch darauf anlegt, den Zuschauer von der ersten bis zur letzten Minute mit seinen Bildern quasi zu überrollen, hat hier jedes Stilmittel seine narrative Funktion. So gibt es Freeze-Frames, in denen die (Computer-)Kamera die Protagonisten abfährt und vorstellt, Zeitlupen- und Stroboskop-Effekte, die sich niemals aufdrängen, und selbst wenn man mal auf eine Split Screen zurückgreift, gehört dies einfach zur Erzählung und ist kein aufgesetzter Schnickschnack, wie man ihn von vielen Filmen kennt, die zu sehr damit beschäftigt sind, "hip" und "cool" zu wirken, um dabei zu bemerken, wie wenig sie noch in der Lage sind, Geschichten zu erzählen und Emotionen zu übertragen. "Cidade de deus" nimmt den Zuschauer von der ersten Minute an auf eine aufregende Reise mit. Ähnliches gelingt auch Filmen wie "Charlie’s Angels", "MI:2", "Moulin Rouge!" oder "Chicago", aber bei diesem brasilianischen Meisterwerk ist dieses Erzähltempo kein Blendwerk, das darüber hinwegtäuschen soll, daß hinter der Oberfläche wenig bis nichts ist, denn in der "City of God" ist selbst das Schicksal eines heimtückischen kleinen Bengels oder die Abschiedsparty eines allzu freundlichen Drogenhändlers interessant und bis zuletzt bewegend.
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