Kollywood/Bollywood
eine Filmreihe im Berliner Kino Arsenal
Indisches Kino lebt von einem Gewebe aus Zitaten, Anspielungen und Verweisen. Mehboob Khans
Bharat Mata (1957) bedient sich der Ästhetik Eisensteins, Bimal Roys Klassiker wie
Do Bigha Zamin (1953) weisen deutlich neorealistische Züge auf und in der zeitgenössischen indischen Filmproduktion ist oftmals der Einfluss des Hollywoodfilmes kaum zu übersehen. Neben diesen äußeren Einflüssen ist es aber auch immer wieder die Kultur des eigenen Landes, welche die Inhalte indischer Filme prägt. Die Zitate reichen zurück bis zu den nach wie vor sehr bekannten Nationalmythen des
Ramayana und des
Mahabharata, deren Umfang überlieferte westliche Mythenschreibung wie Homers
Odyssee bei weitem übertrifft. Vor allem die Song-and-Dance-Sequenzen, ohne die kaum ein kommerzieller Bollywoodfilm auskommt, bestehen zum großen Teil aus symbolisch aufgeladenen Choreografien: Die spielerischen Tänze zwischen Mann und Frau, die Auswahl der Szenerie, der Berge und Seen - das sind nicht nur spektakuläre Landschaften mit perfekt choreografierten Tänzen, sondern in vielen Fällen auch Verweise auf die Legenden um Krishna und andere Göttergestalten, Zitate aus älteren Filmen oder mündlich überlieferten Erzählungen.
Die Diskussion um Differenz und Ähnlichkeit ist ein in der Theorie des filmischen Remakes vielfach angeführtes Thema: Ein Hollywood-Remake muss dem Ausgangsfilm möglichst ähnlich sein, um an dessen Erfolg anknüpfen zu können, dennoch sollte die neuere Produktion von der vergangenen auch ausreichend differieren, um noch Interesse an einer zweiten Konsumption des gleichen Stoffes erwecken zu können. Die Diskurse der Postmoderne schließlich ließen den Unterschied von Original und Kopie zur Gänze kollabieren, und im indischen Kino ist ein wunderbares Anschauungsobjekt gegeben, um jene Thesen zu überprüfen: Die Ideen von Original und Kopie funktionieren hier anders und wesentlich flexibler, als man es von der Rezeption westlicher Filme her gewöhnt sein mag. Als der indischen Kultur unkundigem Zuschauer werden einem wohl die vielen Assoziationsstränge der Filme entgehen, wohl aber dürfte man die zahlreichen Anspielungen auf das kommerzielle Kino der USA bemerken. Diese Anspielungen lassen die Verwobenheit und Komplexität der textuellen Ebenen des indischen Kinos erahnen, das Geflecht aus Legenden und Symbolik sowie eben jenes Pulsieren zwischen Wiederholung und Differenz fernab einfacher Duplizierung, das auch das Spiel zwischen einzelnen Filmen und ihrem Remake auszeichnet.
Das Kino Arsenal bietet in diesem Sommer nun schon zum dritten Jahr in Folge Gelegenheit, indisches Mainstreamkino auf der Leinwand zu erleben, ein immer noch viel zu seltener Genuss im weitgehend Bollywood-freien Deutschland. Vom 7. Juli an bis in den August kann man sich erneut vertraut machen mit einigen der Werke der größten Filmindustrie der Welt, Kollywood/Bollywood nennen die Veranstalter ihre vom Kino Xenix in Zürich konzipierte Reihe. Der Titel bezieht sich auf zwei der großen Filmindustrien des Landes, welche in Bombay ("Bollywood") bzw. Kodambakkam ("Kollywood") ansässig sind. Viele der Kollywoodfilme passen dabei wenig in das Bild des Bollywoodfilms als einem einzigen großen Familiendrama, das in den Reihen der letzten beiden Jahre durchaus auch vom Arsenal selbst mitentworfen wurde. Während in den letzten Sommern mit Hum aapke hain kaun (Sooraj Barjatia, 1994), Mohabbatein (Aditya Chopra, 2000), Kabhi Khushi Kabhie Gham (Karan Johar, 2001) oder Chori chori chupke chupke (Abbas u. Mastan Alibhau Burnwalla, 2001) einige der typischsten - und erfolgreichsten - Vertreter der Spezies von großartig unterhaltenden, schreiend bunten, musik- und tränenschweren Starvehikeln gezeigt wurden, neigt man sich beim dritten Anlauf mit Kollywood der südindischen Filmproduktion zu, deren Erzeugnisse nicht wie die meisten Blockbuster auf Hindi, sondern in der Sprache Tamil gedreht werden. Indien spricht 14 offizielle Sprachen, inoffiziell sind es weit über 1000 Dialekte und bei jener babylonischen Sprachenvielfalt ist es einleuchtend, dass Filme, welche beispielsweise im Hindi sprechenden nördlichen Teil des Landes mit grandiosem Erfolg verwöhnt werden, in Gebieten in denen vorwiegend Sanskrit, Urdu, Telugu oder eben Tamil gesprochen wird, nur mäßig erfolgreich sind. Die offensichtlichen Lösungen für das Problem der sprachlichen Barriere sind die gleichen, wie sie auch in anderen Nationen vielfach praktiziert werden: Synchronisation oder aber Remakes erfolgreicher Filme in anderen Sprachen. Das Remake bietet sich dabei an, da die jeweiligen Filmproduktionsstätten auch über eigene Stars verfügen, die die Massen der jeweiligen Sprachgemeinschaft ins Kino locken.
Einer der wichtigsten - und umstrittensten - zeitgenössischen tamilischen Filmemacher ist Mani Ratnam. Sein Terrorismus-Musical-Epos Dil se (1998) lief bereits in den beiden letzten Jahren in der Bollywoodreihe des Arsenal, schön wäre es gewesen, seinen viel diskutierten, höchst nationalistischen Film Roja (1992) dieses Jahr im Programm zu sehen, dessen vor dem Hintergrund des Kaschmir-Konfliktes angesiedelte Geschichte in ihrer Mischung von Patriotismus, großartiger Musik und exzessiver Gewalt eine auch äußerst politische Facette des tamilischen Films eröffnet hätte, die dem diesjährigen Eröffnungsfilm des gleichen Regisseurs fehlt: Der expliziteste politische Verweis in Alaipayuthey (2000, im Arsenal am 7.7. und 10.7.) ist eine Dialogzeile der Protagonistin, die über das Gespräch ihrer Eltern mit den Eltern ihrer großen Liebe sagt, es sei verlaufen "wie ein Dialog zwischen Indien und Pakistan" - offensichtlich ist ein völliges Scheitern der Kommunikation gemeint. Alaipayuthey ist ein Film über missverstandene Gesten und unterlassene Liebesbekundungen, der kunstvoll die zwei Zeitebenen seiner Erzählung verwebt. Immer wieder spielt die eigentliche Hauptrolle ein Zug: In einem Zug wird sich hier verliebt, in einem Zug wird der Heiratsantrag gestellt, und ein Zug ist auch Schuld an dem zentralen Missverständnis des Filmes. Auch wenn ein deutlich politischer Film an der Stelle von Alaipayuthey das Programm hätte eröffnen können, so ist Ratnams Werk dennoch ein guter Einstieg in die Welt des tamilischen Kinos, dessen zwischenmenschliche Beziehungen weniger schemenhaft und deutlich konfliktreicher gezeichnet sind als die Liebespaare in den oben genannten Hindi-Blockbustern.
Ähnlich wie im Eröffnungsfilm wird auch Company (Ram Gopal Varma, 2002, im Arsenal am 24.7.) strukturiert durch misslungene Kommunikation, die aus den eng verbundenen Anführern einer Bombayer Untergrundorganisation verbitterte Feinde macht. Company ist vor allem interessant durch seinen bedrückenden Bezug zur Realität der indischen Filmproduktion: Bis vor wenigen Jahren waren die Filme noch nicht von der Regierung als eigene Industrie anerkannt und somit oftmals auf Geld aus der Unterwelt zur Realisierung ihrer teuren Bilderträume angewiesen. Blut spritzt auf ein Bollywoodplakat in einer der zahlreichen Gewaltszenen in Company, und eine drastischere Metapher ließe sich wohl kaum finden für die Realität einer Industrie, in der Erpressungen und Geldwäsche häufig sind - der Regisseur Rakesh Roshan entging vor einigen Jahren nur knapp einem Mordanschlag, der vermutlich mit der Vergabe der ausländischen Vermarktungsrechte seines damals aktuellen Filmes zusammenhing. Gewalt ist auch in den Filmen - insbesondere der Kollywood-Industrie - ein beliebtes Mittel zur Unterhaltung, und Company macht dabei trotz eigener wunderbarer Song-and-Dance-Szenen keinen Hehl aus seiner Verachtung für das typische Familienmelodram: Ein Film-im-Film wird in Company gedreht, und wenn der offensichtlich karikierte Regisseur in jener Szene ankündigt, sein Film werde "keine Love-Story, sondern eine Love-Saga", und wenn er danach "It's all about loving your - erm - lovings" sagt, so ist das eindeutig ein Seitenhieb auf Kabhi Khushi Kabhie Gham, der mit dem Untertitel "It's all about loving your parents" versehen war. Der Film, der in jener Szene in Company gedreht werden soll und alsbald von einer Schießerei am Set unterbrochen wird, heißt übrigens Pyaar pyaar mein (Wenn es Liebe ist). Der Film, in dessen Umfeld ein Jahr vor der Entstehung von Company das Attentat auf Rakesh Roshan ausgeübt wurde, hieß Kaho na pyaar hai (Sag, dass es Liebe ist). Kein Zufall wohl, sondern ein Beispiel für die zahlreichen Verweise eines Bollywoodfilmes auf die Realität des indischen Alltags.
Ein Höhepunkt des Programms ist wohl der Hindi-Film Khudgarz (1987, im Arsenal am 18.8 und 21.8) von eben jenem Rakesh Roshan. Die Geschichte von zwei Freunden, die - erneut auf Grund eines Missverständnisses - in Feindschaft auseinander driften, ist mit Actionszenen gespickt, die nostalgische Erinnerungen erwecken an jene Zeiten, in denen die Kampfchoreografien von Bud Spencer und Terence Hill in regelmäßigen Abständen über die von ganzen drei Programmen verwöhnten bundesrepublikanischen Haushalte flimmerten. Zwischen Comedyeinlagen und Faustkämpfen unterhalten den Zuschauer in Khudgarz Bollywoodsongs, die teils vor malerischer Bergkulisse gedreht wurden. Die Atmosphäre bewegt sich zwischen 80er-Jahre Trash und monumentalem Epos, erzählt wird von der Rache eines erniedrigten einstigen Freundes, der seinen frisch erworbenen Feind in dessen eigener Branche besiegen möchte, um sich dafür zu rächen, dass jener sein Haus für ein Hotelprojekt einstampfen ließ. Vor allem sehenswert wird Khudgarz dadurch, dass die Filmreihe auch das fünf Jahre später entstandene Tamil-Remake des Werkes zeigt: Annamalai (Suresh Krishna, 1992, im Arsenal am 28.7 und 31. 7.). Hier lassen sich exemplarisch einige der Verschiebungen und Differenzen erkennen, die die Funktion von Remakes bestimmen: Annamalai ist anders als Khudgarz ein ausschließlich um den tamilischen Superstar (der skurrilerweise auch in den Anfangscredits als solcher benannt wird) Rajinikanth konzipierter Film - während im Ausgangsfilm die beiden zu Feinden gewordenen Freunde relativ ausgewogen charakterisiert werden und sich auch beide in ihrem Konflikt mit Schuld beladen, spielt Rajinikanth hier den um sein Haus betrogenen Helden als gänzlich unschuldige Rolle, die sich völlig zurecht in einen Rachefeldzug stürzt, während seinem Antagonisten kaum Zeit auf der Leinwand zugestanden wird. Auch der Einfluss des Hollywoodfilmes kann in Annamalai in seiner reinsten Form bestaunt werden: In einer Verfolgungsszene gerät der Protagonist in einem Büro, das aus zahlreichen Trennwänden aus Glas besteht, in die Enge. Seine Verfolger feuern auf die Glasscheiben und zwingen den Helden so zum barfüßigen Gang über den mit Scherben übersäten Boden - seiner Schuhe hatte sich Rajinikanth zuvor entledigt, um auf leisen Sohlen seinen Häschern zu entkommen. Die Sequenz ist ganz offensichtlich aus einem der paradigmatischen Actionfilme der jüngeren Filmgeschichte entnommen - in Die Hard (John Mc Tiernan, 1988) war es Bruce Willis, der barfuß über die von seinen Verfolgern verursachten Scherben fliehen musste. Dennoch funktioniert jene Szene weder als Plagiat noch als einfaches Zitat, eher geht es um das Vergnügen des (indischen) Zuschauers daran, eine durch den westlichen Film in die populäre Kultur eingegangene Filmszene nochmals mit einem einheimischen Superstar in der Rolle des Helden zu sehen - eine Art Performance, die sich durch eine wörtlichen Reproduktion konstituiert: Der Körper des tamilischen Stars imitiert die Rolle von Bruce Willis sowie dessen Filmrolle und (re-)produziert in seinem Spiel eine neue, genuin indische Version dieser Urszene des Actionfilms.
Eine schöne Filmreihe hat sich das Arsenal da ausgeliehen, nach der intensiven Beschäftigung mit Bollywood und Kollywood bleibt nun noch eine weitere relativ große Filmproduktion in Indien: Tollywood, die Industrie der Telugu sprechenden Gegend um Hyderabad in Zentalindien. Vielleicht im nächsten Jahr.