Les destinées sentimentales
[Diese Rezension stammt aus dem Sommer 2000.]
EM-Finale oder der neue Film von Olivier Assayas, vor diese Wahl gestellt, dürfte ich wohl einer der wenigen sein, die sich ohne Zögern für letzteres entscheiden. Und ich bereue nichts. Manche Kritiker meinen ja, dies wäre ein völlig untypischer Film für Assayas, ich kann das nicht beurteilen, ich kenne ja nur zwei Werke des Regisseurs, und beide konnten mich begeistern.
In drei Stunden Literaturverfilmung (nach Jacques Chardonne) erfahren wir von den ersten dreieinhalb Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhundert. Jean Barnery (Charles Berling), der lieber Priester wurde als die Porzellanmanufaktur seines Vaters zu übernehmen, verstößt seine Frau (Isabelle Huppert) wegen deren seinem Stand nicht entsprechenden Verhalten, sie zieht mit der gemeinsamen Tochter weg. In dieser Zeit lernt er die Nichte (Emanuelle Beart) eines Cognacfabrikanten kennen, was vielleicht auch dazu beiträgt, dass er im denkbar ungünstigsten Moment die Entscheidung trifft, seine Frau wieder an seine Seite zu holen. Was nicht nur dazu führt, dass die junge Frau, die insgeheim die selben Gefühle für ihn verspürt, die er sich nicht eingestehen will, fluchtartig die Stadt verlässt. Die rekonstruierte Ehe hingegen ist nur noch eine Farce, Barnery lässt sich scheiden, überschreibt Frau und Tochter seine Anteile an der Porzellanfabrik, tritt als Pastor zurück und flieht mittellos nach Paris, wo er an Tuberkulose erkrant. So der erste von drei Abschnitten des Films, wer mehr wissen will, soll ihn sich anschauen. Was sich hier wie eine Mischung aus Buddenbrooks, Dornenvögel und Heimat anliest, ist keine plumpe Herz-Schmerz-Plotte, sondern eine in ihrer Komplexität gefangennehmende Geschichte eines Mannes, der die Liebe zum Ziel seines Lebens erklärt, aber eine Zeitlang braucht, zu erkennen, um welche Liebe es sich dabei handelt, die zu einer Frau, zu einem Kind, zur Familie, zum Beruf, zur Perfektion …?
Und diese Fragen bestimmen unser aller Leben, bei allen Entscheidungen geht es um die Prioritäten (wie in der Magnum-Werbung), die man immer wieder aufs neue festlegen muss, und oft genug erkennt man seine Fehler erst, wenn es zu spät ist.
Was den Film überdies sehenswert macht, ist die Liebe zum Detail, und zwar vor allem zum Detail bei alltäglichen Dingen. Die Arbeit in der Porzellanbrennerei, der Weg der Trauben bis in die Flasche, diese Dinge zeigt Assayas uns ganz nebenbei und verzaubert zumindest mich damit. Die "Sendung mit der Maus" war nie so spannend inszeniert wie das Erstellen eines Tellers von Porzellan-Perfektionisten im Kampf gegen Krieg, Gewerkschaften, internationale Konkurrenz und Rezession. Und auch andere kleine Momente sind es, die diesen Film zu einem Kleinod machen. Eine Einstellung auf Emannuel Beart, während die Kirchenglocken den Krieg verkünden, ein sonniger Nachmittag im Kirschengarten, Kamerafahrten vorbei an der singenden Kirchgemeinde, ein Walzer, die Schweizer Berge, eine Kutschfahrt, Assayas versetzt uns zurück in vergangene Zeiten, ohne uns mit opulenten Darbietungen zu erschlagen. Weniger ist diesmal definitiv mehr. Und das bezieht sich nicht auf die Laufzeit des Films, ich wüsste nicht, welche Minute ich hätte missen wollen.
Und als ich das "Cinema Paris" verließ, war der Kurfürstendamm erfüllt vom Trubel der Frankreich-Fans, und ausnahmsweise habe ich es ihnen gegönnt.