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November 2003
Thomas Vorwerk
für satt.org

Lilja 4-ever
Schweden 2002

Lilja 4-ever (R: Lukas Moodysson)

Buch
und Regie:
Lukas Moodysson

Kamera:
Ulf Brantås

Schnitt:
Michal Leszczylowski

Musik:
Nathan Larson

Darsteller:
Oksana Akinshina (Lilja), Artyom Bogucharsky (Volodya), Pavel Ponomarjov (Andrei), Elina Benenson (Natasha), Lilia Sinkarjova (Tante Anna), Tomas Neumann (Witek), Ljubov Agapova (Liljas Mutter), Tõnu Kark (Sergej), Anastasia Bedredinova (Nachbarin), Margo Kostelina, Veronika Kovtun (Kassiererinnen), Bo Christer Hjelte (Einsamer Mann), Madis Kalmet (Mann im Hotelzimmer)

Kinostart:
4. Dezember 2003

Lilja 4-ever



Die Filmographie des Schweden Lukas Moodysson sieht bisher sehr vielfältig aus: Da war zunächst "Fucking Amal", der das Coming-Out junger Lesben in einem kleinen Stadt/Schule in eine gelungene Komödie verpackte. Auch bei "Tilsammans" gab es viel zu lachen, doch diesmal ging es um eine Kommune in den Siebzigern, ein Ensemble-Film, der auch noch nostalgisch eine Zeit beschreibt, in der der Regisseur vielleicht gerade eingeschult wurde. "Lilja 4-ever" spielt nun größtenteils irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion, und der Film könnte kaum weiter von einer Komödie entfernt sein. Schon zu Beginn sehen wir ein übel zugerichtetes Mädchen, offenbar in panischer Flucht - und eine Autobahnbrücke scheint (wie schon in "L.I.E.") ihre einzige Fluchtmöglichkeit darzustellen.
Lilja 4-ever (R: Lukas Moodysson)

Lilja 4-ever (R: Lukas Moodysson)

Lilja 4-ever (R: Lukas Moodysson)

Lilja 4-ever (R: Lukas Moodysson)

Lilja 4-ever (R: Lukas Moodysson)

Doch auch wenn das Thema von "Lilja 4-ever" ein ernstes und erschreckendes ist (das ich hier aber nicht ausdiskutieren werde), liegt die Stärke des Films in der Darstellung der Jugend (und wie sie und mit ihr die Unschuld langsam und unaufhaltsam verloren gehen …).

Und wenn wir uns erinnern, ging es in den Filmen von Lukas Moodysson immer um Kinder und Jugendliche, selbst in "Tilsammans" wiegen die Probleme der Kinder die der Erwachsenen mit Leichtigkeit auf.

Das Leben der 16jährigen Lilja ist beileibe kein Zuckerschlecken: Die Mutter lässt sie in einer heruntergekommenen Mietskaserne zurück, die sie dann durch eine noch schäbigeren Wohnung ersetzen muß, beim Einkauf fehlt das Geld für das nötigste (der Orangensaft muß zurückgestellt werden, damit es wenigstens für Chips und Zigaretten reicht). Liljas bester Freund, der elfjährige Volodya, denkt schon früh daran, mit diesem Leben Schluß zu machen - aber Lilja rettet ihn von der Autobahnbrücke und nimmt ihn zeitweilig bei sich in der kleinen Wohnung auf.

Doch selbst inmitten dieses Elends, in dem eine Flasche Hustensaft oder eine Tube Klebstoff für die Kinder eine gelungene Abwechslung darstellt, zeigt Moodysson die Kraft der Jugend: ungestüm, fröhlich, unschuldig raufen sie auf dem Bett, und filmisch wird dies festgehalten durch bunte Farben, spontan wirkende Kameraarbeit oder den knalligen Soundtrack des Films.

Ausgerechnet zwei Songs von deutschen Bands symbolisieren hierbei die Extreme, die der Film aufeinander loslässt: Alphavilles "Forever Young" wird ja fast schon im Titel zitiert: Die Jugend ist unendlich, ein geschenkter Basketball kann tagelangen Kummer vergessen lassen. Doch härter ist das in der Klammer eingespielte "Mein Herz brennt" von Rammstein, das dem Zuschauer schon früh klarmacht, daß es übel enden wird.

"Lilja 4-ever" ist ein schmerzhafter Film, denn auch wenn Moodysson die wirklich schlimmen Dinge im Off geschehen lässt, wird es dadurch auf der emotionalen Ebene nicht einfacher. Wenn Lilja schließlich die (vorläufige) Lösung ihrer Probleme sieht, und sie mit dem jungen Andrej nach Schweden fliehen will, dann ist nicht nur Volodya (den sie zurücklässt, wie ihre Mutter sie zurückließ) skeptisch. Und Moodysson zeigt sein Heimatland Schweden dann auch nicht als das Paradies, für das es Lilja verkauft wurde - an dieser Stelle des Films ist Liljas Jugend bereits fast verloren, die Farben sind inzwischen fast ganz verschwunden (wabernder Frühnebel und finstere Nacht), auch die Kamera kann dem Schicksal nicht entkommen, und die Musik besteht aus leisen, traurigen Streichern á la Vivaldi.

Doch auch wenn Regisseur Moodysson unerbittlich mit seinen Protagonisten (und dem Publikum) umspringt, gelingt es ihm am Schluß mit einem kleinen Kniff, der die Narration des Films etwas umgeht, doch noch Jugend, Unschuld und Grenzenlosigkeit zurückzubringen - und gerade dadurch, daß wir miterleben müssen, wie Lilja (die 16jährige Oksana Akinshina bekam zurecht einen Guldbagge Award als beste Schauspielerin) dies alles verliert, trifft die Botschaft des Films direkt ins Herz. Und wie Roger Ebert schrieb, sollten einige der Leute, die für diese Situation verantwortlich sind, sich den Film mal anschauen - vielleicht könnte die Welt dadurch besser werden, so wie das Filmjahr 2003 durch diesen Lichtblick eine deutliche Aufwertung erfuhr.