Wahrscheinlich hat Theo Angelopoulos eine zweite Chance verdient und vor allem einen Zuschauer, der nicht gerade schon Romuald Karmakars
Land der Vernichtung, mit immerhin hundertvierzig Minuten auch eher ein Schlummerlied, hinter sich gebracht hat. Denn Karmakar besuchte mit der Videokamera Südostpolen, um dort die mehr oder weniger offensichtlichen Spuren der deutschen Vernichtungslager zu dokumentieren, und was als Vorarbeit für einen Spielfilm über ein berüchtigtes Polizeibataillon gedacht war, geriet ihm zum Dokumentarfilm. Ob es eine weise Entscheidung war, sei dahingestellt.
Ganz gewiß war es kein weise Gedanke des Rezensenten, sich danach drei Stunden Angelopoulos auszusetzen, aber als mindernder Umstand sei vermerkt, daß für ihn der 1935 geborene Grieche gleich nach Jean-Pierre Melville kommt, wenn es um europäische Filmregisseure geht. Auf etwas besseres als Die Wanderschauspieler warten wir seit 1975 und werden wohl noch weitere 29 Jahre warten müssen. Denn wenn Angelopoulos es nicht selbst schafft, wer sollte dann den epischen Atem haben, um derart kunstvoll das zwanzigste Jahrhundert ins Bild zu fassen?
Angelopoulos schafft es selbst nicht mehr. Soviel darf man nach dem ersten Teil seiner neuen Trilogie sagen. Sein erster Dreiteiler, mit den Wanderschauspielern zwischen Die Tage von 36 und Die Jäger, hatte bereits dasselbe Thema, allerdings beschränkt auf die Geschehnisse in Griechenland. Die neue Trilogie soll sich dagegen der ganzen Welt widmen, was allerdings im ersten Teil nicht zu spüren ist, der sich so sehr beschränkt, wie es nur eben geht: auf die aus Odessa vor der Oktoberrevolution vertriebenen Griechen, die sich nahe Thessaloniki angesiedelt haben. In drei Stunden verläßt der Film niemals die engere Umgebung des kleinen, in sumpfiger Gegend errichteten Dorfes, das sich die Flüchtlinge im graukalten Norden Griechenlands hatten bauen dürfen.
Mit der Farbe Grau ist Angelopoulos natürlich in seinem Element. Seit Der
Bienenzüchter bleicht seine ursprünglich so bunte Palette immer mehr aus; Der schwebende Schritt des Storches, sein bislang letztes Meisterwerk, brachte die Kälte in das südliche Leben, und Der Blick des Odysseus und Die Ewigkeit und ein Tag führten dann alles zusammen zu einer Filmlehre des Fröstelns, die den skeptischen Blick des Regisseurs ästhetisch spiegelt. In Die Erde weint gibt es nun gar keinen Sonnenstrahl mehr, und alle zwanzig Minuten rattert eine Dampflokomotive - die abgegriffenste visuelle Metapher für das all das Leid, das der Fortschritt über uns gebracht hat - quer durchs Bild, die mal Flüchtlinge, mal Soldaten, mal Gefangene, mal gar nichts befördert.
Dreißig Jahre können sehr lang sein, und so drückt man sich spätestens zur Hälfte des Werks die Daumen, daß Angelopoulos vielleicht doch mit wachsendem historischen Schrecken auch etwas aufs Tempo drücken möge, aber weit gefehlt. Just zum Schluß hin, wenn Eleni, die als adoptiertes Waisenkind nach Griechenland kam, ihren Mann und ihre beiden Söhne an Zweiten Weltkrieg und griechischen Bürgerkrieg verloren hat, will das Klagen und Jammern und die scheußlich pathetische Musik gar kein Ende mehr nehmen. Der tierische Schrei, den die auch selbst als Gefangene zur Genüge gebeutelte Mutter über dem zweiten toten Sohn ausstößt, setzt dann doch den Schlußpunkt, aber bis es zu diesem Emotionsschub in letzter Sekunde kommt, ist denn doch zuviel Gruseliges, was Menschen Menschen antun, in zu elegisch-schöne Bilder geflossen - und sei es nur, daß man von Anfang an darauf gewartet hat, daß die im Stil einer alten "Weißer Riese"-Reklame zu Hunderten aufgehängten blütenweißen Bettücher im Dorf von den blutigen Händen der Opfer befleckt werden. Nein, es ist nicht überraschend, was hier passiert, wir kennen die Geschichte, und Angelopoulos hat sie schon einmal und besser erzählt. Der einzige Unterschied - und das ist auch ein Nachteil - ist, daß diesmal mit einer Frau im Zentrum erzählt wird, und Angelopoulos, halten zu Gnaden, versteht offensichtlich nicht viel mit Frauen als Hauptpersonen anzufangen.
Aber wer weiß, was die beiden folgenden Teile bringen. Vielleicht greift er noch einmal aus in Weltgegenden, die ihm den Rückzug auf die nordgriechische Tristesse nicht mehr gestattet. Vielleicht erfindet er sich selbst noch einmal neu, und dann wollen wir und Die Erde weint auch noch einmal ansehen, hellwach und ohne Vorlauf eines anderen Films - und vielleicht wirkt der Zauber von Angelopoulos auch ein einziges Mal indirekt.