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März 2004
Eva Lia Reinegger
für satt.org

Blue End
Schweiz 2001

Blue End (R: Kaspar Kasics)

Regie:
Kaspar Kasics

Vorlage (Reportage):
Erwin Koch

Kamera:
Pierre Mennel

Schnitt:
Kaspar Kasics, Isabel Meier

Musik:
Mich Gerber

mit
Bobby Jernigan, Vicky Layfield, Patrick C. Batchelor, Victor Spitzer, Michael C. Ackerman, Caroll Pickett, Jody Tullos, Dan Layfield - und Joseph Paul Jernigan

85 Min.

Kinostart:
25. März 2004

Link:
Eine Fahrt durch den Körper von oben nach unten …
(mpg, 760k)

Blue End



In seinem Dokumentarfilm Blue End hat der Schweizer Kaspar Kasics eine wirklich interessante Geschichte verfilmt. Am Anfang des Films stehen, wenn man so will, zwei Vergehen: ein konkretes, staatlich geahndetes, kapitales Verbrechen, ein Mord, und eine ganz andere Art von Vergehen, das einem rein ethischen Problem entspringt und Unbehagen hervorruft, nämlich die virtuelle Wiederauferstehung eines Menschen durch die Wissenschaft ohne dessen Wissen. Eine Hinrichtung ist es, die beide Ereignisse verlinkt.

Für den Mord, den Joseph Paul Jernigan 1981 an einem 76jährigen Hausbesitzer beging, der ihn beim Einbruch in dessen Haus überraschte, wurde Jernigan zum Tode durch die Giftspritze verurteilt, das Urteil 1993 vollstreckt. Zwei Wissenschaftler legten Jernigans Leichnam in blaue Gelatine ein, um ihn in den nächsten vier Monaten in hauchdünne Scheiben zu schneiden und abzufotografieren. So erschufen sie den ersten digital komplett erfassten Menschen, den sie ins Internet stellten und zu Forschungszwecken einsetzten. Ein ehrgeiziges Projekt, das unter dem Namen "Visible Human Project" firmierte und mit dem heute an weltweit 850 Universitäten gearbeitet wird.

Blue End (R: Kaspar Kasics)
Blue End (R: Kaspar Kasics)
Blue End (R: Kaspar Kasics)
Blue End (R: Kaspar Kasics)
Blue End (R: Kaspar Kasics)
Blue End (R: Kaspar Kasics)
Blue End (R: Kaspar Kasics)

Jernigan war im Gefängnis nahegelegt worden, seinen Körper der Wissenschaft zu vermachen und er hatte sich damit einverstanden erklärt, um doch noch "etwas Gutes" tun zu können, wie seine Angehörigen es beschreiben. Er wurde jedoch nicht darüber aufgeklärt, was mit seinem Körper geschehen würde. Dass die Organentnahme, von der er ausging, beim Tod durch Gift nicht mehr möglich ist, war ihm nicht bekannt.

In Interviews mit verschiedenen beteiligten Personen aus Justiz, Wissenschaft und der Familie des Verurteilten schält sich die Geschichte in all ihren Facetten heraus. Sorgsam und unkommentiert setzt der Regisseur die verschiedenen Aussagen zueinander in Beziehung und hält so den Fall in der Schwebe.

Im "Fall Jernigan", wie er vom Staatsanwalt, der Pflichtverteidigerin und dem Berufungsanwalt geschildert wird, ist es zu Ungereimtheiten gekommen was beispielsweise das Geständnis nach der Verhaftung angeht. Mit einem ordentlichen Anwalt an der Seite hätte niemand in dieser Situation, da sind sich alle einig, ein solches Papier unterschrieben. Der aber fehlte. Der Staatsanwalt, der dem Prozess einen Karrieresprung verdankt, hält das Urteil trotzdem für grundsätzlich richtig. Die Pflichtverteidigerin hingegen hat, wie sie erläutert, durch den unfairen Prozess den Glauben an die Todesstrafe verloren. Der Berufungsanwalt beschreibt seinen bis kurz vor der Hinrichtung anhaltenden Optimismus, das Urteil doch noch in ein "lebenslänglich" umwandeln zu können. Der Wissenschaftler erläutert die Apparatur und die Methode, mit der er und sein Kollege den Leichnam aufbereiteten. Bobby Jernigan trauert um seinen Bruder, den er hat sterben sehen und die frühere Ehefrau des Verurteilten, die ihren Mann nach dem Mord der Polizei auslieferte, setzt sich mit ihren Schuldgefühlen auseinander. Mit viel Vertrauen erzählen alle ihre persönliche Sichtweise, ihre Erfahrung der Dinge.

Es ist der Körper des Verurteilten, der hier zur Disposition steht und auf dem sich die verschiedenen Geschichten zu einer zusammen schreiben. Der Wissenschaftler preist die Gesundheit und den prototypischen Muskelaufbau des Objekts. Er spricht über die Schwierigkeiten, die die Technik mit dem widerspenstigen Material beim millimetergenauen Zerschneiden hatte und über den Ärger, den es ihm verursachte, wenn Teile sich nicht perfekt, nicht vollständig abbilden ließen. Der Bruder erinnert sich daran, dass er Paul nicht einmal mehr an seinem letzten Lebenstag umarmen durfte, an die Schläuche in seinem Körper bei der Hinrichtung, an den letzten Atemzug, den Paul tat. Der Pfarrer berichtet von den acht vergeblichen Versuchen der Ärzte Paul Jernigan die Nadel für die Giftinjektion in die Vene zu stechen und daran, dass er ausnahmsweise der Bitte des Verurteilten nachkam, ihm die Hand zu halten. Mit Hilfe des Computers fahren wir schließlich in das Innere von Paul Jernigans Körper, hindurch durch die Querschnitte seines Kopfs, seines Halses, seines Brustkorbs und sehen ästhetische, sanft ineinander fließende Bilder, den Bildern gleich, die Lavalampen erzeugen. Das ist er, der "Visible Man", der aufgrund wissenschaftlichen Abstraktionsvermögens und des Versuchs das Phantasma vollständiger Sichtbarmachung zu realisieren, letztenendes unsichtbar geworden ist, als Person verschwunden ist. Es wundert nicht, dass einer der Interviewten ihn einmal aus Versehen als "Invisible Man" bezeichnet.

Blue End ist der Versuch, der Person Joseph Paul Jernigan zu einer anderen Art von Sichtbarkeit zu verhelfen. Denn die Obszönität liegt nicht in der Visibilisierung des Körpers an sich oder in ihrer Ästhetik. Das ethische Vergehen besteht vielmehr in den Umständen, die dazu geführt haben, dass eine Person zu nacktem Leben wird, mit der rein objekthaft verfahren werden kann, die man ihrer Geschichte, ihrer Umgebung, ihrer Beziehungen entkleiden kann, bis sie nichts mehr zu geben hat außer rohes, verwertbares Körpermaterial. Das dazugehörige zugrundeliegende Weltbild scheuen sich Justiz und Wissenschaft nicht eine Sekunde zu äußern. Der Staatsanwalt und der Wissenschaftler sind überzeugt, dass die Menschen sich in gute und böse einteilen lassen, dass Joseph Paul Jernigan zu letzteren gehört und jetzt ganz sicher in der Hölle schmort. Das ist Fundamentalismus américaine.

Kasics rhythmisiert seinen Film mit assoziativen Bildern, mit Kamerafahrten, die er zwischen die einzelnen Sequenzen setzt. Dort, in diesen Zwischenräumen, in denen die Kamera z.B. Vorortsiedlungen abfährt oder aus Untersicht in Baumwipfel hineinfilmt, dürfen wir das Gehörte und Gesehene sich setzen lassen und nachdenken. Blue End bleibt durchgängig bei seiner hochwertigen, aber klassischen reportageartigen Form.