Die Meinungen über
Elephant sind gespalten, was ich aber nicht nachvollziehen kann - für mich ist er ein formal hervorragenden Film, der ein durchaus interessantes und aktuelles Thema einmal ganz anders verarbeitet.
Die Handlung des Films dürfte allgemein bekannt sein: Der Alltag einer amerikanischen High School wird empfindlich dadurch gestört, daß zwei der Schüler sich bis an die Zähne bewaffnet daran machen, ein Massaker anzurichten. Im Gegensatz zu Bowling for Columbine versucht Elephant aber nicht, Gründe auszumachen, was einige Zuschauer verstört. Nein, ganz im Gegenteil, eine der Aussagen des Films ist es, daß es für solche Amokläufe, wie sie leider in letzter zeit immer häufiger passieren, keine zu analysierenden Kausalketten gibt.
Elephant zeigt zunächst den High School-Alltag aus der Sicht einiger Schüler, bei denen der Zuschauer nicht umhin kommt, darüber nachzudenken, ob es sich um zukünftige Opfer (oder gar die Täter) handelt.
John sieht aus wie ein blondierter junger Keanu Reeves und muss sich um seinen alkoholisierten Vater (Timothy Bottoms) kümmern, weshalb Mr. Luce (der Direktor?) ihn zum Nachsitzen verdonnert. (Man kann bereits hoffen, daß der unfaire Pauker seiner Strafe nicht entgeht …)
Elias fotografiert und entwickelt seine Bilder in der schuleigenen Dunkelkammer. Wie John ist er allgemein beliebt und seine kreative Ader wird auch durch seinen ungewöhnlichen Armschmuck ausgedrückt.
Acadia ist ebenfalls sehr sympathisch, bei Nathan und Carrie scheint es sich um das Traumpaar der Schule zu handeln. Die unscheinbare, unförmige, bebrillte Michelle hat offensichtlich Probleme damit, ihren Körper zu zeigen, während Brittany, Jordan und Nicole die oberflächlichen Zicken sind, die sich ausschließlich übers Shoppen unterhalten und gleich im Anschluß ans Essen gemeinsam auf der Toilette ihre Figur retten.
Alex wird während des Unterrichts mit Quark / Haferbrei / was auch immer beschmissen, ist aber auch ein talentierter Klavierspieler und einer unserer zwei Täter. Die Gier des Publikums nach Erklärung verhöhnt Regisseurs Van Sant, indem er nacheinander Alex' Demütigung durch seine Mitschüler und sein Klavierspiel zeigt, mit Eintreffen von Eric sieht man ferner eine Nazidokumentation im Fernsehen, ein an sinnloser, stupider Brutalität kaum zu überbietendes Computerspiel und ein gemeinsames Duschbad mit Kuss und Umarmung (ein die Doppelmoral entlarvender Seitenhieb des schwulen Regisseurs), bevor die beiden sich aufmachen, ihren ausgeklügelten Plan in die Realität umzusetzen, dabei möglichst viel Spaß zu haben und dann zu sterben, wie sie sich sozusagen vorgenommen haben. Die Waffen sind natürlich über eine Website bestellt, aber auch dieses Detail streut Van Sant wie nebenbei mit ein.
Wer sich bei Elephant darüber beschwert, daß man weder charakterliche Entwicklung noch schauspielerische Leistungen der jungen Darsteller zu sehen bekommt, hat wahrscheinlich auch übersehen, daß die "Rollennamen" mit den Namen der Schauspieler übereinstimmen. Jeder spielt eigentlich sich selbst, mit Ausnahme der unbeteiligt, mit einem leichten Lächeln ausgeführten Bluttaten.
Doch dem Film geht es auch keineswegs darum, die vermeintliche Coolness eines Massenmordes wiederzugeben. Im Gegenteil - nur wenige Mordszenen zeigen überhaupt Täter und Opfer zugleich, Reaktionen beider Seiten gibt es so gut wie keine, es geht fast so emotionslos zu wie beim Egoshooter.
Was Elephant zu so einem großartigen Film macht, ist die verzerrte Wahrnehmung, die unmerklich die kaum vorhandene Narration untergräbt. Wie Christoph Huber im Schnitt Nr. 33 sehr klug bemerkt, wird dieses Hauptthema des Films bereits durch die erste Einstellung in den Mittelpunkt gerückt, wo bei einem Auto der Seitenspiegel zerquetscht wird.
Die Kamera verfolgt oft in langen Plansequenzen unsere Protagonisten durch die an The Shining gemahnenden Schulkorridore. Doch während man bei den Wanderungen von John, Nathan und Elias eigentlich nur die Langeweile des Schulalltags empfindet, erscheint die Umgebung bei Michelle unscharf, bei den drei Tussis Brittany, Jordan und Nicole verlässt die Kamera die drei Grazien immer wieder und zeigt lieber, wie die Küchenjungen in der Kantine rauchen, die Oberflächlichkeit des Gesprächs zeigt sich dadurch, daß offenbar nicht einmal der Kameramann Lust hat, sich dieses Geplänkel lange Zeit anzuhören. Ein weiterer schöner Kameraeffekt ist die an zentralen Stellen eingebaute Zeitlupe, in die der Film plötzlich übergeht, wie man es von der Ballszene von The Age of Innocence kennt. Die Momente, wenn John mit einem Hund spielt oder Nathan in den bewundernden Blicken seiner Mitschülerinnen badet, werden so herausgehoben.
Doch auch auf der Tonebene erweist sich Elephant als sehr subjektiv. Zunächst mal ist auffällig, daß man fast nie über die Tonspur eine räumliche Verortung der Dialogfetzen konstruieren kann. Bis die Schreie beginnen, ist alles gleichförmig, fast atonal. Andererseits gibt es aber auch hier Passagen, wo man die außerdiegetische Musik als Geisteszustand der Protagonisten deuten kann. Elias lauscht einem spacig-jazzigen Soundtrack, Alex hört sein Lieblingsklavierstück Für Elise, während er womöglich über seinen "Plan" nachdenkt. Außerdem gibt es bei Alex einmal den anschwellenden Kantinenlärm, der seine Überforderung mit einer alltäglichen Situation übersetzt, und später des laute Atmen der beiden Attentäter, das alle anderen Geräusche übertönt - sie sind im Rausch, der sich später in Naturgeräuschen (auf der Jagd) kristallisiert.
Eine klare Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern nimmt die Kameraführung auch dann vor, wenn man nach diversen Korridorgängen zu Alex nach Hause kommt und die Kamera wie ein gefangenes Tier in dem kleinen Raum umherstreift. Der Ausbruch steht bevor wie ein plötzlich ausbrechendes Gewitter, die Ruhe vor dem Sturm währt nicht lange.
Daß die zunächst artig erscheinende Chronologie des Films immer mehr durchbrochen wird, zeigt natürlich auch den Übergang von Ordnung zum Chaos, und daß Eric & Alex als einzige auch ein Leben vor dem Vormittag haben, an dem der Film spielt, könnte sie fast zu den eigentlichen Hauptdarstellern machen - doch auch dies durchkreuzt Van Sant mit seiner stiefmütterlichen Behandlung von Eric, der im Gegensatz zu Alex kaum ein Leben neben der Tat zu haben scheint. Immerhin ist er genauso blondiert wie John, aber bei Alex lassen sich gleich mehrere Beziehungen zu anderen Schülern herbeideuten, den Außenseiterstatus wie bei Michelle oder die Kreativität wie bei Elias. Dieser Lesart kommt auch das Schicksal dieser zwei Figuren entgegen, die im Film einen kleinen Sonderstatus annehmen. Ähnlich wie Nathan & Carrie, die sich der Film als besonders gelungene Ziele bis zum Schluß aufspart - Und dieser Schluß ist ebenso konsequent wie der ganze Film, der im Grunde Michael Hanekes Funny Games und 51 Fragmente einer Chronologie des Zufalls verbindet und zur formalen wie ästhetischen Perfektion führt.
"So foul and fair a day I have not seen" zitiert Alex Shakespeares Macbeth, während man längst aufgegeben hat, einen Body Count vorzunehmen, und zwischen ähnlichen Extremen finden sich die Zuschauerreaktionen, was mir zumindest bei Leuten, die Filmkunst und nicht bloß Unterhaltung wollen, unverständlich erscheint.