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April 2004
Benjamin Happel
für satt.org

Schultze gets the Blues
D 2002

Schultze gets the Blues (R: Michael Schorr)

Buch
und Regie:
Michael Schorr

Kamera:
Axel Schneppat

Schnitt:
Tina Hillmann

Musik:
Thomas Wittenbecher

Darsteller:
Horst Krause (Schultze), Harald Warmbrunn (Jürgen), Karl-Fred Müller (Manfred), Ursula Schucht (Jürgens Frau), Hannelore Schubert (Manfreds Frau), Loni Frank (Schultzes Mutter), Wolfgang Boos, Leo Fischer, Elke Rümmler, Rosemarie Deibel

Kinostart:
22. April 2004

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Schultze gets the Blues



"Schön." Das ist alles, was den drei Bergleuten einfällt zu ihrem Abschiedsgeschenk für den Vorruhestand: Je eine orangefarbene Lampe, ein leuchtender Salzkristall, der von innen angestrahlt wird. Und wenn man mit dem angefeuchteten Finger über die Lampe fährt, dann schmeckt der Finger salzig. Schön. Schultze (Horst Krause) ist einer der drei, und er wird leiden unter seinem Rentnerdasein.
Schultze gets the Blues (R: Michael Schorr)
Schultze gets the Blues (R: Michael Schorr)
Schultze gets the Blues (R: Michael Schorr)
Schultze gets the Blues (R: Michael Schorr)
Schultze gets the Blues (R: Michael Schorr)
Schultze gets the Blues (R: Michael Schorr)
Schultze gets the Blues (R: Michael Schorr)
Schultze gets the Blues (R: Michael Schorr)
Schultze gets the Blues (R: Michael Schorr)
Schultze gets the Blues (R: Michael Schorr)
Schultze gets the Blues (R: Michael Schorr)

Der Salzkristall als Staubfänger - das ist eine traurige Metapher für die Umstellung, die der Ruhestand für Schultze bedeutet: Bisher hat er es gefördert, das Salz unter Tage, nun ist er entbehrlich geworden, nutzlos wie das Salz, das als Lampe auf dem Couchtisch endet. Er sitzt in seiner Stammkneipe, wechselt leere Worte mit seinen ehemaligen Kollegen, bis ein Ereignis sein Leben von Grund auf ändert. Denkbar unaufgeregt inszeniert ist das, wie der gesamte Film. Michael Schorr zeichnet seine Charaktere und ihr Leben liebevoll und leise, er verzichtet auf Erklärungen, auf Psychologisierungen und verlässt sich ganz aufs Zusehen. Eine Radiosendung ist jenes einschneidende Ereignis, eine Sendung, in der Schultze Musik hört aus den Südstaaten der USA: ein Akkordeon, schneller Rhythmus, Baumwollfelder und der Mississippi werden assoziiert statt der immer gleichen Windräder im Osten der Bundesrepublik.

"Negermusik!", ruft das Publikum auf dem Fest des Musikvereins, auf dem Schultze seine musikalische Entdeckung mit dem Akkordeon publik macht, und das Unverständnis, das ihm entgegen schlägt, kann er nur kompensieren, weil einige seiner Freunde ihm ein Flugticket schenken, in die USA. Den Musikverein soll er dort repräsentieren, in der Partnerstadt. Mit Schultzes Fortgang nach Amerika ändert sich der Rhythmus des Films. Der Zuschauer fühlt die Veränderung, die das Leben des Protagonisten nimmt. Die Einstellungen werden noch langsamer, die Dialoge noch rarer. Schultze ist allein und er spricht kaum englisch, aber die Gastfreundschaft und die Farbe des Landes überträgt sich in die Bilder (großartige Kamera: Axel Schneppat): Alles wird bunter, intensiver, die Farben des Wassers und der Menschen verdrängen die grüngrauen Farben der deutschen Heimat. Horst Krause spielt seinen Helden mit der stoischen Ruhe, die die Figur auszeichnet, und seine Rolle passt wunderbar in die Landschaften, die Schultze gets the Blues so intensiv erforscht. Die Windräder und die vom Bergbau aufgeschütteten Hügel, die sich im Wasser spiegeln, die Schrebergärten in den weiten Landschaften, die nur von Güterzügen durchschnitten werden, das alles wurde ohne Überheblichkeit und voll ehrlicher Bewunderung für die Ästhetik ins Bild gesetzt, die entsteht, wenn Natur und Industrie aufeinanderprallen. Schultze bewegt sich im anhaltinischen Mansfelder Land durch eine einst intensiv industrialisierte Gegend, deren Charme verlorengegangener Prosperität der Film genauso treffend einfängt, wie die vom Niedergang des Bergbaus erzwungene Lethargie ihrer Bewohner. "Das Konzept der überhöhten Realität" nennt der Regisseur diese ästhetisierende Darstellung des grauen postindustriellen Alltags, und mit seinem romantischen Realismus gelingt es ihm, die triste Bergbaulandschaft genauso wie die deutschtümelnden "Wurstfeste", die Schultze in Amerika entdecken muss, in wunderbare Bilder zu packen.

Ein typischer Festivalfilm ist Schultze gets the Blues, die Hofer Filmtage hat er eröffnet und unter anderem bereichert er Festivals in Berlin, Rotterdam, Karlovy Vary und Stockholm. Die ruhige Erzählung, die humorvolle Milieustudie, die Grenzüberschreitung und die Entwicklung Schultzes, das alles sind Elemente, die viele jener Filme auszuzeichnen scheinen, die nur im Rahmen von Festivals einem cinéastischen Publikum zugänglich sind. So ist es auch äußerst erfreulich, dass Schultze nun bundesweit in den Verleih kommt - der Film wird vermutlich nicht nur im anhaltinischen seine Freunde finden: bundesweit gültig sind die Charaktere, die gezeigt werden, sie könnten sich genausogut im Ruhrgebiet finden oder im tiefsten Bayern. Die Genauigkeit, mit der Schorr es schafft, ein Bild zu zeichnen von einem Milieu, aber auch einer ganzen Generation, ist es, die dem Film auch über weite Strecken einen so dokumentarischen Anstrich verleiht. Zwar sind die Bilder ganz genau kadriert und die Dialoge pointiert, aber dennoch scheinen die Situationen, denen Schultze begegnet, einem das Land, in dem wir leben, besser vor Augen zu führen als viele klassische Dokumentationen. Schultze ist ein Held, einer, der es schafft, Grenzen zu überschreiten, auch wenn er anfangs zweifelt: "Aber Schultze, ein sich ändernder Musikgeschmack ist doch keine Krankheit!" beruhigt der Hausarzt den besorgten Patienten, als dieser mit seinem Akkordeon zur Behandlung erscheint. Und weil Schultze dies versteht, weil er es schafft, ein neues Leben in der Fremde zu beginnen, wird er zu dem, was Kinohelden im besten Falle sein können: einem Vorbild.