Stanislaw Mucha macht sich in seinem Dokumentarfilm Die Mitte mit seiner Crew auf die Suche nach der geographischen Mitte Europas. Schnell stellt sich heraus, dass Europa voller Mittelpunkte ist. In Essen gibt’s einen, versichert man dem Regisseur, oder war es doch Hessen? In Bayern gibt’s selbstverständlich auch einen mit dazugehörigem gleichnamigen Wirtshaus "Zum Mittelpunkt Europas". Vor allem aber der Osten Europas scheint geradezu übersät von Mittelpunkten: "Erst kommen sie mit dem Hubschrauber und vermessen alles, dann laden sie einen Stein ab und dann ist hier die Mitte Europas", erklärt eine alte Frau, wie`s funktioniert.
Auf der Suche nach dem einzigen und wahren Mittelpunkt Europas führt Muchas Reise also vor allem in osteuropäische Länder, in die Slowakei, nach Polen, Litauen, in die Ukraine. Seine Begegnungen und Eindrücke hat er zu einer runden, unterhaltsamen Geschichte zusammengeschnitten, die uns nicht nur davon erzählt, dass der Mittelpunkt immer man selbst ist, sondern auch davon, dass die Mitte Europas geprägt ist von Armut und die Bewohner politischen Veränderungen mit einem gewissen Sarkasmus gegenüber stehen. Dass mit dem Kapitalismus nicht alles Gold ist was glänzt, wird nicht nur einmal geäußert. "Wir sind frei zu verhungern" erklärt sinngemäß einer der vielen, mit denen Mucha sich unterhält, "früher haben sie dich zur Arbeit geprügelt, heute lassen sie dich nicht arbeiten", ein anderer.
Wie schon in seinem letzten Film Absolut Warhola setzt Mucha ganz auf die Lakonie und Kauzigkeit vor allem der älteren, "einfachen Leut´", deren Vertrauen zu gewinnen er eine besondere Begabung hat. Die oft unfreiwillige Komik der Sprüche und die Skurrilität der Situationen sind es, die er einfängt und herausarbeitet. Das kann man ihm zum Vorwurf machen. Ärmliche Verhältnisse, Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung pickt Mucha im Vorbeigehen auf. Aber eben nur im Vorbeigehen. Stehenbleiben, nachfragen, nachhaken, Verbindungen herstellen, den Dingen auf den Grund gehen, ist das Programm dieses Dokumentarfilms nicht. Lieber macht er uns schnell wieder lachen über den Liebreiz von Leuten, die am Mittelpunkt ihres westukrainischen Dorfes, einem Kiosk, vorbeikommen, eine Zeitung kaufen, die "Echo des Hundes" heißt und sich dabei zu allerlei Lebensweisheiten oder einem Liedchen inspirieren lassen. Oder er zeigt uns einen Lastwagen-Fahrer, der gegen die Mühsal gleich zweier platter Reifen kämpft, die die schlechten Straßen verursacht haben und der zitatbildend erklärt: "In der Mitte Europas gibt’s keinen Reifendienst". Locker hält das Thema der Suche nach dem ultimativen Mittelpunkt Europas den Film zusammen. Eine Suche, die letztlich erfolglos bleiben wird, dafür aber unter der Hand Impressionen und Betrachtungen aus und über (Ost-)Europa hervorbringt. Nicht mehr und nicht weniger.
Viel verdankt der Film seiner Kamerafrau Susanne Schüle, die mit einer so einfachen, ruhigen Neugier die Landschaft, die Kinder, die Szenerie am Wegesrand betrachtet, dass die allesamt zutraulich und ebenso ruhig zurückzuschauen scheinen. Niemals dringt sie aufdringlich in Gesichter und Räume ein, was im Dokumentarfilm der letzten Jahre häufiger strapaziert wurde. Ihre von einem liebevollen Humor gekennzeichneten Impressionen unterstützen Muchas Ansatz nicht nur, sie können sich als eigenständiger künstlerischer Ausdruck im Film behaupten.