Wie sagte die wie jedes Jahr sehr umtriebige Festivalorganisatorin so schön zu Beginn dieses langen Kinoabends: der lesbische Film ist in der Krise. Das klang selbstironischer, als es gemeint war. Bezogen war es auf die zunehmend schwierige Situation der lesbischen Filmemacher, die sich in einer harten Konkurrenzsituation wiederfinden.
Die Kurzfilmnacht "Lesbisch – die Freiheit nehm ich mir" (der kindische Name dieser Short-Präsentation hält sich leider seit Jahren) konnte allerdings den Eindruck erwecken, der lesbische Film sei auch sonst nicht eben krisensicher – Stichwort: akute Drehbuchschwäche. Obwohl es eigentlich vielversprechend anfing, und obwohl nicht wie in den letzten Jahren die ultrakurzen, auf Beta-Material gedrehten Filme die Mehrzahl bildeten, sondern die ambitionierteren und etwas längeren Produktionen. "You Fake" erzählt auf unverkrampft ehrliche Art von einem der großen lesbischen Tabus: dem vorgespielten Orgasmus. Zwei Freundinnen schließen zu diesem Thema eine Wette ab, die per Umfrage unter Freundinnen und Ex-Lovern entschieden wird – eine Umfrage, die zu erschütternden Ergebnissen kommt. Das Ende des Films kommt etwas arg früh und ohne den erhofften Paukenschlag; trotzdem zeigt "You Fake" sehr schön, wie man einen guten Kurzfilm macht, indem man nämlich nicht alles reinpackt, was ein Feature-Film auf 90 Minuten oder länger ausbreiten kann, und wozu es dem Kurzfilm (wie der Name schon sagt, gell?) an Zeit mangelt.
Wenn’s schief geht, sieht das dann so aus wie in "F* Stop", der durch Wiedergabe schwacher Lesben-Klischees bei gleichzeitiger Unterschlagung motivierter Handlungsstränge glänzt. Dykes sind halt genuin toughe Mädels auf schweren Maschinen, befreundete Werbetussis laufen halt immer mit einem Hauch von schwarzem Nichts bekleidet in der Gegend herum und Fotografinnen, die als Künstler natürlich slackermäßig durchlöcherte Jeans tragen, haben natürlich unter dreckigen U-Bahn-Brücken plötzlich wahnsinnige Kreativitätsflashs, die sie dann an den dykes on bikes gleich vor Ort ausleben können. Merke: Wenn die Attraktivität der Hauptdarstellerin das einzige ist, weshalb man aus einem Kurzfilm nicht vor lauter Entnervung vorzeitig rausgeht, macht ihn das insgesamt noch lange nicht sehenswert.
"Abide With Me" aus Norwegen kommt da schon ambitionierter daher. Der Film über die aufkeimende Liebe zwischen einer verschüchterten Christentochter und einer lebensfrohen Künstlerin besticht mit wunderschönen Landschaftsaufnahmen und dem vielleicht überraschendsten postkoitalen Schnitt der jüngeren Filmgeschichte, bleibt aber ebenfalls in der Chrakterformung unausgereift. Dass die beiden Frauen zum Beispiel für ihre erste sexuelle Begegnung die Romantik-Matratze ausgerechnet unter das Christusbild am Altar schieben, kann man nun einmal nicht aus den Charakteren heraus erklären, sondern nur mit der Sucht der Regisseurin, ein starkes religiös-"blasphemisches" Bild zu schaffen, was natürlich mächtig in die Hose geht und eher lächerlich wirkt.
[Beginn Publikumsschmähung]
Die Zuschauerinnen der Kurzfilm-Nacht waren durchschnittlich um die dreißig. Wer es in diesem Alter immer noch für nötig hält, einen auch in Lesbenfilmen gern gezeigten heterosexuellen Liebesakt mit entsetztem Gestöhne zu quittieren, der sollte sich mal über seine eigene Einstellung zur Toleranz Gedanken machen.
[Publikumsschmähung vorerst Ende]
Aber es naht Rettung. "Half-Laughing", die Geschichte einer Butch, die zum Begräbnis ihres Großvaters nach Hause zurückkehrt und schmerzlich erfahren muss, dass ihre Mutter sich ihrer so schämt, dass sie ihr lieber eine Muppets-Rememberance-Perücke verpasst, als ihren neuen 3mm-Kurzhaarschnitt zu akzeptieren, ist sicherlich einer der Höhepunkte des Abends. Für die Mutter nicht auszudenken, dass all die Gäste beim Leichenschmaus mehr als deutlich vorgeführt bekommen sollen, dass sie eine Lesbe zur Tochter hat. Die so einfach wie eindringlich gestellte Frage der Tochter: "Why are they more important to you than I am?" klingt noch lange im Zuschauer nach, ebenso wie die sehr präsent vorgetragene Unfähigkeit der Mutter, auch bei sich selbst ein ungeschminktes Gesicht zuzulassen. Endlich einmal Menschen aus Fleisch und Blut, mit denen man mitfühlen kann/will, und Schauspieler, die bereit sind mehr zu sein als die Verkörperung von Klischees.
Diese Klischees bekommen wir dagegen wieder aufgetischt bei "Passageway". Eine Prostituierte (wunderschön herausgeputzt als Dandy) hat ein Verhältnis mit der Frau ihres besten Freiers. Das kann natürlich nicht gut gehen, und so endet diese unheilige menage à trois im Stil der 20er Jahre vorhersehbar in tödlichen Affekthandlungen. Allein, die Figuren und ihre Schicksale, sie sind dem Zuschauer so sexy wie die nächste Steuererklärung, man leidet nicht mit ihnen, da sie so wenig "real" werden wie die perfekt augeleuchteten Kulissen, in denen sie agieren. Ein kleines Fazit lässt sich nach diesem Kurzfilm allerdings bereits ziehen: Frauen müssen immer erst zusammen tanzen (möglichst Tango), bevor sie zusammen Sex haben können (siehe auch "Abide With Me" et al.) Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie erst Gefühle für das Gegenüber entwickeln müssen (wie wir ja spätestens seit John Gray und seinem Mars/Venus-Buchhügel wissen), während Männer sofort an Sex denken, selbst wenn sie Priester sind (siehe auch hier "Abide With Me"). Gut, dass Lesben da mit der heterosexuellen Vorurteilsmatrix konform gehen.
"Gift For The Living" ist mal wieder was fürs Herz und tatsächlich gut gelungen. Die Geschichte über das Mädchen, das bei der Großmutter aufwächst und eines Tages interessante Dinge über deren Vergangenheit herausfindet, ist eine schöne Parabel über das Loslassen des Gewesenen zugunsten der Gegenwart und über die Dinge, die wir aus Liebe zu tun bereit sind.
Die Handlung von "Marcury In Retrogate" gleicht dagegen einer wilden und verrückten Irvine-Welsh-Inszenierung. Betsy hat ein paar Mal Pech im Spiel gehabt, da verlässt sie auch noch ihre Freundin wegen ihrer gemeinsamen Paartherapeutin. Und das alles an Betsys "nicht-ganz-vierzigstem Geburtstag" – das kann selbst die härteste Butch nur schwer ertragen, und so sind sehr amüsante Nervenzusammenbrüche die Folge.
"Olive" bedient das klassische Coming-Out-Genre in bewährter, aber eben auch hinlänglich langweiliger Manier. Der Film hat den meisten seiner Mitstreiter jedoch wenigstens voraus, dass er auch in kinematografischen Dimensionen denkt und nicht nur versucht politisch korrekt oder auf Teufel komm raus erotisch sein zu wollen, ohne die Wärme und das Blut, das es dafür braucht, zur Verfügung zu stellen. "Olive" experimentiert mit ungewöhnlichen Kameraeinstellungen und stellt junge Talente vor, die man durchaus noch öfter auf der Leinwand sehen möchte.
Für Überrasschungen sorgten die beiden deutschen Beiträge: "Wedding Daydream" beginnt vielversprechend und bietet eine Riege aus Funk und Fernsehen bekannter Gesichter. Auch die Komik ist schön gelungen und erinnert an den späten Loriot. Nur: das Ende ist leider wenig überraschend, weil viel zu vorhersehbar. Wer den Braten nicht schon nach einigen Minuten gerochen hat, der muss wohl kurz eingenickt sein.
Was einem bei "Reality Check" nicht passieren wird, einem Film, der gute Chancen auf den diesjährigen Publikumspreis haben dürfte. Einmal mehr wird hier deutlich: auch der Homo-Film kommt in Deutschland am besten als Komödie, irgendwie steckt’s uns wohl in den Senfgläsern respektive im Blut (und Gott sei Dank ist man über das Ralf-König-Geeiere hinaus). Die beiden sehr unterschiedlichen Damen in "Reality Check" sind zwar ebenfalls reichlich überzeichnet (die Künstlerin superzickig und mit Sinnkrise, die Polizeischülerin supernaiv), aber wenigstens sind sie auf Anhieb sympathisch und taugen zur Identifikation, und gemixt mit der auch immer wieder gern genommenen Polizei- bzw. Beamtenschmähung kommt der Film doch sehr kurzweilig daher.
Den Schluss- und absoluten Tiefpunkt setzt an diesem Abend der französische Beitrag
"Ocean Of Wheel". Er steht mit seiner "Gut gemeint – schlecht gemacht"-Herangehensweise symptomatisch für so viele andere, weshalb er etwas näher skizziert werden soll. Völlig unmotiviert fährt da eine erfolgreiche Sängerin (im schwarzen Trägerkleid! sic!) aufs in "Bilitis"-Farben getönte Land, wo die Kühe blühen. Wen will sie dort treffen? Natürlich ihre einstige Geliebte, die mittlerweile dort mit Mann und Maus und Kindern eine gesettelte Existenz führt und, O-Ton, "weiblicher geworden" ist. Nach anfänglicher Fremdel- und Teekocherei wird bei einem Spaziergang hysterisch lachend durchs Weizenfeld gehüpft (sicherlich eine Übersprungshandlung für das fehlende Tanzen, aber: Welche Frau hat das eigentlich in Wirklichkeit schonmal gemacht? Bitte E-Mail an mich!), dann eröffnet die Sängerin der Angebeteten, dass sie sich nicht mehr verlieben konnte, seit sie 16 war (das mag so 20 Jahre her sein, dem Augenschein nach) – seit sie mit der Geliebten eine Nacht im Zelt verbrachte, hier draußen in der Natur. Das hört die frischgebackene Hete natürlich erstmal nicht gern, doch ihre Freundin beteuert, keine Ansprüche mehr an sie haben zu wollen. Aber! Sie lässt ihren Schmuck zurück, respektive gleitet er auf dem Weizenfeld zu Boden (wie die Geduld des Zuschauers auch schon am Boden ist, kurz vor ein Uhr nachts will man solche symbolüberfrachteten Nichtigkeiten einfach nicht mehr sehen). Dann fährt die Sängerin in den Sonnenuntergang zurück, nicht ohne vorher beteuert zu haben, sie werde – ganz anspruchslos! – eines Tages zurückkehren, ein Pferd springt naturbelassen durchs Bild – und das war’s. "Why does life have to peak so early?" hat sie ihre einstige Geliebte einige Minuten vorher gefragt. Als Zuschauer fragt man sich nur: "Why must my evening have a low so late?"
Insgesamt stellt man sich um halb zwei Uhr nachts aber doch noch ganz andere Fragen: Warum denken so viele Filmemacherinnen immer noch, eine Story, die kaum in einen abendfüllenden Spielfilm passen würde, in einen Kurzfilm pressen zu müssen? Und warum werden immer wieder Klischees aufgewärmt, die man selbst dem Mainstreamkino nicht mehr verzeiht? Man möchte den Regisseurinnen mehr Mut zu ungewöhnlichen und knackigen, gerne auch trashigen Filmen wünschen - besser trashig als langweilig. Die Ansätze sind ja da. Vielleicht gelingt’s beim Kurzfilmprogramm des Verzaubert-Festivals 2005.