Cinemania 8:
Sexy Berlinale
Bis auf Kinsey alle Rezensionen von Kathi Hetzinger.
The Wayward Cloud
(Tsai Ming-Liang, Wettbewerb)
Originaltitel: Tian Bian Yi Duo Yun, Taiwan 2004, Buch: Tsai Ming-Liang, Kamera: Liao Pen-Jung, Schnitt: Chen Sheng-Chang, mit Lee Kang-Sheng (Hsiao-Kang), Chen Shiang-Chyi (Shiang-Chyi), Lu Yi-Ching, Yang Kuei-Mei, Sumomo Yozakura, Hsiao Huan-Wen, Lin Hui-Xun, Jao Kuo-Xuan, 112 Min.Wie bereits vielfach in den Medien beschworen, wird von diesem Jahr wohl hauptsächlich eines von der Berlinale in Erinnerung bleiben: es war das Jahr des Melonenpornos. Die Reaktion der Öffentlichkeit zeigt, dass es wohl wenigstens einem Regisseur im diesjährigen Wettbewerb gelungen sein dürfte, tatsächlich Diskussionen zu entfachen. Womit er sein kurzfristiges Ziel schon mal erreicht hätte.
The Wayward Cloud reiht sich nahtlos in die Filmographie von Tsai Ming-Liang ein, seine Themen sind immer noch dieselben: er erzählt von der Isolation, der Emotionslosigkeit des modernen Menschen, dem Mangel an Liebe, der Sehnsucht nach Liebe. Er sagt, es geht ihm hauptsächlich um den Körper - ein Grund, warum er immer wieder mit denselben Schauspielern arbeitet. Er verlangt seinen Schauspielern alles ab, was wohl nur durch das Vertrauen dieser langjährigen Form der Zusammenarbeit möglich ist. In
The Wayward Cloud bringt er seine Themen zu einem Höhepunkt, indem er seinen Protagonisten Hsiao-Kang (der in
Vive l’amour noch Urnenplätze und in
What time is it there? Uhren verkaufte) zu einem Porno-Darsteller macht. Die heutige Selbstverständlichkeit von Sex ohne Liebe tritt so noch weiter in den Vordergrund als dies z.B. bei
Vive l’amour bereits der Fall war.
Sex ist aber nicht das einzige Bedürfnis des Körpers. Ebenso geht es um Essen und Trinken, wobei deren Symbolkraft oft auf einer Ebene mit der Narration steht. In einer Zeit der extremen Trockenheit herrscht Wasserknappheit in Taiwan. Es wird empfohlen, viel Wassermelonensaft zu trinken. Man muss erfinderisch sein, wenn man die Hygiene nicht vernachlässigen will. Es empfiehlt sich deshalb, einen möglichst großen Vorrat an heimlich in öffentlichen Gebäuden abgezapften Wasserflaschen anzulegen. Das Wasser ist so durch seine Abwesenheit oder Perversion ständig präsent. Wie wichtig etwas ist, merkt man eben oft erst, wenn es nicht mehr da ist.
Der Film setzt sich aus drei parallelen Ebenen zusammen. Nach einer einführenden Einstellung beginnt er mit Hsiao-Kangs Arbeitsroutine vor der Kamera, mit der berühmten Melonen-Szene: seine Partnerin, eine professionelle japanische Porno-Darstellerin, hat eine halbe Wassermelone zwischen den Beinen. Aufgrund des Wassermangels haben beide später ein Problem mit Ameisen. In einer anderen Szene muss die Dusche, unter der Hsiao-Kang seine Partnerin bearbeitet, mit einer durchlöcherten Wasserflasche nachgestellt werden. Das Wasser rinnt dabei ungenutzt in den Abfluss.
Im selben Apartmenthaus findet aber auch eine echte Romanze statt: Hsiao-Kang und Shiang-Chyi nähern sich einander vorsichtig, nachdem sie ihn, schlafend im Park, wieder erkannt hat. An dieser Stelle spricht sie die einzige Dialogzeile des Films: "Verkaufst du immer noch Uhren?" Shiang-Chyi sehnt sich nach Hsiao-Kangs Nähe und Berührung, doch nach einem langen Arbeitstag, bzw. einer Arbeitsnacht, fällt es ihm schwer, sich ihr gegenüber zu öffnen; die beiden erleben eine seltsame, unerfüllte, aber dennoch körperliche Nähe. Eine Szene erinnert stark an Woody Allens
Annie Hall, nur mit dem Unterschied, dass hier alles auf stumm geschaltet ist. Tsais Stil, der seinen Themen so angemessen ist, setzt sich auch in
The Wayward Cloud fort: lange, stille Kameraeinstellungen, kaum Bewegung, keine Musik. Der Mangel an Liebe und an Wasser ist auch ein filmischer Mangel’.
Dazwischen findet sich jedoch noch ein halbes Dutzend grell-bunter Musicaleinlagen, Chinesische Chansons der 60er und 70er Jahre - ein kompletter Bruch mit Tsais bisherigem Stil. Die Nummern kommentieren das Geschehen emotional zugespitzt, bis hin zum Kitsch. Sie sind einfallsreich, changieren zwischen witzig und geschmacklos, z.B. wenn eine Gruppe junger Damen zwischen riesigen Kunstblüten und einer Statue von Chiang Kai-Shek umhertanzt. Die extreme Künstlichkeit wird durch die nicht immer lippensynchrone Synchronisation noch verstärkt. Tsai führt hier eine Ebene der Abstraktion und der Distanzierung ein, die, ganz im Gegensatz zum klassischen Musical, einen ironischen Charakter hat. Es ist erstaunlich, wie es Tsai durch die Nebeneinanderstellung dieser Ebenen gelingt, Entfremdung intensiv darzustellen und dabei trotzdem Witz und echte Erotik nicht zu vernachlässigen.
Am Ende treffen alle drei Ebenen in einem grandiosen Finale aufeinander, in dem sich Höhepunkt und Tiefpunkt nicht mehr voneinander trennen lassen. Erfüllung und Enttäuschung, Wahrhaftigkeit und Künstlichkeit, Liebe und Leere treffen aufeinander. In dieser letzten Szene wird erst wirklich klar, worum es dem Regisseur eigentlich geht, dafür aber mit aller Deutlichkeit und Kraft. Das Lachen, das sich bisher immer wieder durchgesetzt hat, stellenweise aus tatsächlichem Amüsement, andernfalls aus Scham oder Verständnislosigkeit, bleibt nun restlos im Halse stecken; die Erotik löst sich in Luft auf. Eine Träne ist der letzte Tropfen Flüssigkeit, der vergossen wird.
Tsai Ming-Liang hat einen in jeder Hinsicht überwältigenden Film geschaffen, in dem jedes Detail jedes andere perfekt ergänzt.
The Wayward Cloud wird zurecht in Erinnerung bleiben, egal ob als Melonen-Porno oder als Tsai Ming-Liangs Meisterwerk.
Kinsey (Bill Condon,
Wettbewerb, außer Konkurrenz)
USA 2004, Buch: Bill Condon, Kamera: Frederick Elmes, Schnitt: Virginia Katz, Musik: Carter Burwell, mit Liam Neeson (Alfred Kinsey), Laura Linney (Clara McMillen), Chris O’Donnell (Wardell Pomeroy), Peter Sarsgard (Clyde Martin), Timothy Hutton (Paul Gebhard), John Lithgow (Alfred Seguine Kinsey), Tim Curry (Thurman Rice), Oliver Platt (Herman Wells), Dylan Baker (Alan Gregg), Lynn Redgrave (Interviewte), Julianne Nicholson (Alice Martin), William Sadler (Kenneth Braun), Veronica Cartwright (Sara Kinsey), Benjamin Walker (Kinsey mit 19), Matthew Fahey (Kinsey mit 14), Will Denton (Kinsey mit 10), 118 Min., Kinostart: 24. März 2005Nach
Gods and Monsters (1998) über den schwulen
Frankenstein-Regisseur Frank Whale legt Bill Condon erneut ein Biopic über eine männliche Ikone des 20. Jahrhundert mit einem bewegten Sexualleben vor. Alfred Kinsey, der mit seinem Kinsey-Report die Sexualität in ähnlichem Unmaß wie der Erfindung der Anti-Baby-Pille revolutionierte, war zunächst als Biologe jahrelang mit der Gallwespe beschäftigt, von der er auf dem nordamerikanischen Kontinent über 5000 Exemplare sammelte und katalogisierte. Nachdem er darüber trotz seiner ebenso menschenscheuen wie manchmal schroffen Natur eine Frau findet, die sich ebenso für Gallwespen interessiert, entdeckt er jedoch ein seiner Ansicht verwandtes Themengebiet, daß ihn noch mehr interessiert: die menschliche Sexualität.
Als Schlüsselpunkt baut der Film hier die gelinde gesagt misslungene Hochzeitsnacht der Kinseys auf. Nach einem Besuch beim Gynäkologe wird Kinsey sich der Abgründe fehlenden Wissens bewußt, und nachdem er an seiner Uni zunächst die Genehmigung für ein provokatives Seminar, das seine prüden bis bigotten Vorgesetzten am liebsten unter einem Titel wie "Ehe-Hygiene" nur sehr eingeschränkten Zuschauer zugänglich machen würden, beginnt er ähnlich der Gallwespen, die Spielarten der menschlichen Sexualität über Fragebögen zu katalogisieren. Sein erster Kinsey-Report (über den Mann) wird ein Bestseller, der zweite Teil (über die Frau) einer längeren Reihe stößt dann auf größeren Widerstand, und wenn man die heutigen Protestaktionen christlicher Fundamentalisten gegen die Verfilmung von Kinseys Leben (aus dem einige - nie bewiesene - dunklere Kapitel ausgeblendet wurden) betrachtet, scheint sich vielleicht doch noch nicht genug geändert zu haben.
Trotz des provokativen Themas ist Bill Condons Film nämlich nicht nur sehr zurückhaltend in dem, was er zeigt (einige im Hörsaal gezeigte Dias mal ausgenommen), er zeigt vor allem, daß eine offene Sexualität durchaus funktionieren kann (nicht muß), und diese sicher erstrebenswerter ist als ein alle zwei Wochen verdunkeltes Schlafzimmer.
Mich würde interessieren, was Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als gegen so einen Film zu protestieren, alles so auf dem "Kerbholz" haben. Vielleicht keinen Verkehr mit 33 verschiedenen Tierarten (so ein rekordverdächtiger, von William "Luther Sloane" Sadler gespielter Triebtäter im Film), aber sie werden schon einen Grund haben, warum sie ihre Sexualität auch weiterhin unter dem Laken der Verschwiegenheit verstecken wollen.
Wie Bill Condon und sein Antiheld Kinsey das Thema handhaben, ist aus heutiger Sicht weniger revolutionär als vor allem vernünftig. Aber fundamentalistische Christlichkeit und Vernunft gingen nur selten Hand in Hand.
Inside Deep Throat
(Randy Barbato, Fenton Bailey,
Panorama Dokumente)
USA 2004, Buch: Randy Barbato, Fenton Bailey, Kamera: David Kempner, Teodoro Maniaci, Schnitt: William Grayburn, Jeremy Simmons, Musik: David Steinberg, Sprecher: Dennis Hopper, mit Gerard Damiano, Linda Lovelace, Harry Reems, Ron Wertheim, Erica Jong, Norman Mailer, Gore Vidal, John Waters, David Winters, Wes Craven, Camille Paglia, Helen Gurley Brown, Hugh Hefner, 88 Min., Kinostart: 2. Juni 2005
Der Pornofilm
Deep Throat war zu seiner Zeit etwas Besonderes. Nicht unbedingt, weil er künstlerisch anspruchsvoll gewesen wäre, was er nicht war, oder weil er etwa gute Schauspieler gehabt hätte, was nicht der Fall war; selbst der Regisseur, Gerard Damiano, hält
Deep Throat nicht für einen guten Film. Umso erstaunlicher ist seine Einzigartigkeit, nämlich seine Popularität: seit er das erste Mal gezeigt wurde, im Jahre 1972, hat er 600 Millionen US $ eingespielt, was ihn bei einem Budget von 25000 $ zum erfolgreichsten Film aller Zeiten macht. Am Times Square bildeten sich lange Schlangen: ganz normale’ Menschen, die vermutlich noch nie zuvor einen Pornofilm gesehen hatten, wollten
Deep Throat sehen. Er erregte Aufsehen, erhielt Besprechungen in
Variety, sogar in der
New York Times. Weder vorher noch nachher waren die Grenzen zwischen Pornographie und Mainstream so verschwommen und durchlässig. Von den Unmengen Geld, die der Film eingespielt hat, lässt sich heute jedoch nichts mehr nachverfolgen; die Mafia hatte mit einem ausgeklügelten inoffiziellen Vertriebssystem ihre Finger im Spiel. Die am Film Beteiligten profitierten nie vom
Deep Throat-Hype.
Den unwahrscheinlichen Erfolg von
Deep Throat erklären sich Randy Barbato und Fenton Bailey vor allem damit, dass
Deep Throat eine Komödie ist; die Möglichkeit, dabei zu lachen, erlaubte es einem viel größeren Publikum, einen Porno zu sehen. Doch den Regisseuren geht es in dieser Dokumentation nicht nur darum, einem Phänomen nachzuspüren. Es geht ihnen um das, was der Film ausgelöst hat: eine politische Hetzjagd auf den Film, seinen Hauptdarsteller, letztlich auf solchen "Schund" schlechthin. Barbato and Bailey, die neben dem Spielfilm
Party Monster auch bereits mehrere Dokumentationen zusammen gemacht haben (u.a. über Monica Lewinsky:
Monica in Black and White), versuchen der Geschichte der Unterdrückung von sexueller Freiheit auf den Grund zu gehen, die
Deep Throat beschworen zu haben scheint. Die amerikanische Regierung ging auf unterschiedlichen Wegen gegen den Film an, er durfte schließlich in vielen Staaten nicht mehr in den Kinos gezeigt werden. Der Regisseur und die Darsteller wurden für ihre Mithilfe zur Verbreitung von Obszönitäten angeklagt, jedoch nur der Schauspieler Harry Reems, der eigentlich Kameraassistent war und nur durch Zufall für den eigentlichen Hauptdarsteller einsprang, wurde verurteilt. Nachdem der öffentliche Protest, auch aus Hollywood, jedoch zu groß wurde, wurde das Urteil aufgehoben. Schließlich führte die Kampagne gegen
Deep Throat zu einer Untersuchung über die Auswirkungen von Pornographie, deren Ergebnisse ihr Harmlosigkeit attestierten, woraufhin der Bericht schnell von der politischen Bildfläche verschwand. Dass die große Aufregung, die der Film verursachte, das Interesse an ihm nur noch mehr anheizte, ist selbstverständlich.
Auch um die spezielle Atmosphäre, in der der Film entstand und von der heute nichts mehr zu spüren ist, geht es den Regisseuren. Als Teil einer sexuellen Revolution, die ihrerseits in Verbindung stand zur allgemeinen Freiheits- und Bürgerrechtsbewegung und Auflehnung gegen Autorität, schien es nicht abwegig, das Genre als natürlich und durchaus Hollywood-kompatibel zu sehen. Barbato und Bailey betonen, dass damals noch alle Optionen offen waren oder erschienen, und führen die Entwicklung, die seither tatsächlich stattgefunden hat, bzw. nicht stattgefunden hat, unter anderem auch auf Deep Throat zurück. Wie auch der Kinostart von
Kinsey wieder einmal beweist, herrscht heute anstatt sexueller Freiheit noch dieselbe Atmosphäre von Tabuisierung und Verteuflung, trotz der Allgegenwart von Sex im Alltag. Wäre die Geschichte ohne einen so Aufsehen erregenden Film wie
Deep Throat anders verlaufen?
Man kann den Regisseuren nicht vorwerfen, gegensätzliche Aspekte zu vernachlässigen. Beim Thema Feminismus z.B. führen sie die Widersprüchlichkeit von
Deep Throat aus: einerseits geht es in
Deep Throat um weibliche Bedürfnisbefriedigung (die Darstellung eines wirklich außergewöhnlichen Orgasmus seines Stars Linda Lovelace war eine der größten Herausforderungen für Regisseur Damiano), andererseits ist der Gag an der Sache (Linda hat ihre Klitoris im Hals!) wohl ein Wunschtraum von so manchem Mann. Dass
Inside Deep Throat dabei sehr unterhaltsam und witzig montiert ist, hilft ihm auch über die eine oder andere Länge hinweg, die sich aus dem Willen, nichts auszulassen, ergibt. So entsteht ein durchaus aufschlussreicher, kritischer Film, der viele Fragen beantwortet, aber auch viele Fragen stellt und offen lässt. Barbato und Bailey gelingt eine klare Stellungnahme, ohne dabei jedoch zu didaktisch zu sein.
That Man: Peter Berlin
(Jim Tushinski, Panorama Dokumente)
USA 2005, Buch: Jim Tushinski, Kamera: Jim Tushinski, Jochen Labriola, Peter Berlin, Schnitt: Jim Tushinski, Clarence Reinhart, Musik: Jack Curtis Dubowsky, mit Peter Berlin, Robert Boulanger, Rick Castro, Guy Clark, Lawrence Helman, John F. Karr, Armistead Maupin, Dan Nicoletta, Wakefield Poole, Robert W. Richards, John Waters, Jack Wrangler, 78 Min.
Jim Tushinskis erster Langfilm lebt ganz von der Persönlichkeit, die in ihm portraitiert wird. Portraitieren ist das richtige Wort, denn Peter Berlin lebt nicht nur hauptsächlich in Bildern, sondern bleibt auch rätselhaft wie in einem Gemälde. Er wurde deshalb manchmal als Greta Garbo des Pornos bezeichnet.
In Deutschland als Sohn einer verarmten adligen Künstlerfamilie geboren, stellte der junge Armin (so sein richtiger Name) bald fest, dass ihm die Arbeit an und mit sich selbst am meisten lag. Er begann in den 60er Jahren in Berlin damit, seine eigenen Outfits zu kreieren, wobei sein Markenzeichen die knallengen Stoffhosen sind, die mehr zeigen als sie verdecken. Er begann auch, sich öffentlich zur Schau zu stellen, in selbst fotografierten Bildern und beim Cruisen durch die Stadt. An dieser Routine hat sich bis heute eigentlich nicht viel geändert, auch wenn er zwischenzeitlich nach San Francisco übergesiedelt ist, wo er der Kunstfigur, die er erschaffen hatte, den Namen Peter Berlin gab. Seine Freunde, vor allem der Maler Jochen Labriola, der ihn zum ersten Mal aus Berlin weglockte und nach Rom, Paris und New York mitnahm, unterstützen ihn zeitlebens finanziell, was ihm eine seltene Unabhängigkeit und Freiheit ermöglichte. In den 70ern wurde er mit zwei selbst produzierten Pornofilmen (
Nights in Black Leather, 1973,
That Boy, 1974) bekannt, und erreichte durch seine originellen, erotischen Fotos, teilweise malerisch nachbearbeitet, den Status eines "gay male sex icon", der seine Bekanntheit bis heute nicht eingebüßt hat – auch wenn ihm das nie besonders viel Geld eingebracht hat. Später musste er zusehen, wie seine Freunde, einer nach dem anderen, an AIDS starben. Robert Mapplethorpe und Andy Warhol haben ihn fotografiert, aber das waren Ausnahmen; ein Angebot von Jean-Paul Gaultier lehnte Peter Berlin beispielsweise ab. Er machte eben stets nur, was er wollte. Heute, mit 60 Jahren, sieht er fast noch genauso aus wie damals und wird immer noch auf der Straße angesprochen: "You’re cute!"
Ein äußerst eigenwilliger Charakter, der sich einem leicht entzieht: Tushinski ist ihm in insgesamt 40 Stunden Interviewmaterial, aufgenommen in einem Zeitraum von 18 Monaten, langsam näher gekommen. Nach einer Weile begann Peter, über andere Dinge als seine Lieblingsthemen Politik und Fernsehen zu sprechen; vor allem zauberte er Unmengen alter, zum Teil ungesehener, Fotos, Filme und Videos hervor, die auch in diesen Film eingegangen sind. Schon allein dafür lohnt es sich, den Film anzusehen: seine Fotos beweisen, dass sich hinter diesem offensichtlich narzisstischen Exzentriker auch ein (Lebens-) Künstler verbirgt. Er hatte die Fähigkeit, den Menschen den Atem zu rauben. Für Tushinski war die Arbeit an
That Man: Peter Berlin "like Peter’s life and image, a journey of discovery and re-creation." Auch die Grenzen, an die der Film zwangsläufig stößt, ergeben sich aus dem Charakter seiner Hauptfigur, bzw. aus der Legende, die er um sich geschaffen hat; die Differenz zwischen beidem bleibt dementsprechend unklar.
Fucking Different!
(Kompilationsfilm, Panorama)
D 2004, mit Beiträgen von Jürgen Brüning, Michael Brynntrup, Martina Minette Dreier, Juana Dubiel & Eva Bröckerhoff, Undine Frömming, Isabella Gresser, Ebo Hill, hollyandgolly, Heidi Kull, Peter Oehl & Markus Ludwig, Nathalie Percillier, Kristian Petersen, Jörg Polzer, Michael Stock, Waltraud Weiland, Ades Zabel, 88 Min., Kinostart: 19. Mai 2005 Der Kompilationsfilm
Fucking Different! besteht aus Beiträgen von je sieben schwulen bzw. lesbischen FilmemacherInnen aus Berlin. Das Thema sind ihre jeweiligen Vorstellungen von Liebe und Sexualität der jeweils anderen Gruppe. Inhalt und Form waren vollkommen freigestellt, es gab keine Vorgaben außer zur Länge der Filme (3-7 Min.) und zum Format (Mini-DV). Heraus gekommen sind, wie meist bei solchen Projekten, einige interessante, einige weniger interessante, allesamt sehr unterschiedliche Kurzfilme, die im Gesamtbild ein paradoxes Bild ergeben, von den immer noch erschreckend tief verankerten Klischees, aber auch von ironischer und humorvoller Reflexion.
Der erste Beitrag von Heidi Kull geht bereits über die bloße Darstellung einer Vorstellung hinaus: Er fragt nicht nur danach, wie sich ein lesbisches Paar, morgens gemeinsam im Bett, schwulen Sex vorstellt, sondern auch, was passiert, wenn sie dies tun. Nachdem sich die beiden in ihre Männerrollen gedacht haben und sich über ihr jeweiliges Aussehen geeinigt haben, kann der Spaß beginnen …
Jörg Polzer greift in seinem Film auf Interviews zurück, in denen er schwule Männer einfach mal über lesbische Liebe erzählen lässt. Hier kommen nicht nur Klischees auf den Tisch, die man längst für begraben hielt, man trifft vor allem auf ein erschreckendes Desinteresse.
Der folgende Beitrag "Mit Herz" von Kristian Petersen beginnt als realistische Darstellung des Liebesspiels zweier Frauen, steigert sich jedoch zu einer surrealen Phantasie über die Beteiligung des Herzens am Sex. Die provokante Geschmacklosigkeit der wörtlich genommenen Darstellung dieses Klischees ist radikal und wirkt wie eine böse Antwort auf den vorgehenden Film.
Aus der Menge heraus sticht der Beitrag "Melancholy Rose" von Waltraud Weiland: eigentlich eine Kurzgeschichte, die zu einer schwarzen Leinwand aus dem Off vorgetragen wird. Ein Erzähler schildert seine erste und scheinbar unwiederbringlich verlorene Liebe, die sich in einer Klappe zutrug. Dass einer der schönsten Beiträge der Kompilation sich mehr mit Liebe beschäftigt als mit Sexualität, ist wohl kaum verwunderlich.
Es folgt einer der ironischen Höhepunkte der Kompilation namens "Martina" (Regie: Jürgen Brüning). Die Anspielung an eine bekannte Tennisspielerin ist offensichtlich, und die Obsession der Protagonistin geht hier soweit, dass sie ihren Tennis-Fetisch lieber privat in ihrer Wohnung auslebt.
Isabella Gressers "Calling an ocean" zeigt eine romantische Liebelei zwischen zwei Teenagern. Es handelt sich dabei jedoch um die unschuldige Phantasie eines jungen Mädchens, das in der Bibliothek zwei Jungs beim Rumalbern beobachtet. Auch hier geht es um den Reiz der Exotik, den die relative Unwissenheit mit sich bringt.
Ausgeflippter und witziger ist dagegen Undine Frömmings Beitrag "Schwule Elfen". Die (Fake) Doku berichtet über Islandelfen, die angeblich auch schwul sein können; ein Elf traut sich sogar vor die Kamera. Auch das Penismuseum von Reykjavík, besungen von Wolfgang Müller ("Pe-Pe-Pe, Nis-Nis-Nis, das Penismuseum von Reykjavík!"), hat hier einen Gastauftritt.
Der letzte Kurzfilm von Markus Ludwig und Peter Oehl ist auch einer der besten: eine lesbische Handwerker-Phantasie als Musical-Nummer mit einfallsreichem Text beschert dem Zuschauer einen beschwingten Ausklang.
Insgesamt zeichnet sich die Kompilation vor allem durch ihre Vielseitigkeit und ihren Humor aus, so dass man ihr auch das eine oder andere nicht so ganz gelungene Beispiel verzeiht.
Männer Helden und schwule Nazis
(Rosa von Praunheim, Panorama Dokumente)
D 2005, Buch: Rosa von Praunheim, Kamera: Lorenz Haarmann, Ton: Jens Pätzold, Schnitt: Stefan Kobe, 90 Min.
"Umsonst gelebt" – Walter Schwarze
(Rosa von Praunheim)
D 2005, Kamera: Lorenz Haarmann, 16 Min.Rosa von Praunheim war auf der diesjährigen Berlinale gleich mit drei neuen Filmen vertreten, zwei Langfilmen und einem Kurzfilm. Neben den beiden Filmen dieses Beitrags zu den Panorama Dokumenten lief seine Dokumentation
Wer ist Helene Schwarz? als Berlinale Special. In seinem kurzen Porträt "
Umsonst gelebt" - Walter Schwarze lässt er in typischer direkter Praunheim-Manier ein Opfer des Holocausts zu Wort kommen: Walter Schwarze, der als Homosexueller vier Jahre im Konzentrationslager und später, nachdem er von den Nazis an die Front geschickt worden war, nochmals vier Jahre in Kriegsgefangenschaft verbrachte, berichtet von den Grausamkeiten die er während des Krieges erlebte. Aber auch nach dem Krieg fand er weder in der Ehe, noch in der späten offenen Beziehung mit einem Mann sein Glück. Am Ende seines Lebens stehend, spricht die Resignation aus ihm: "Ich habe umsonst gelebt." Er starb 1998 an Krebs. Der Film zeigt ein bedrückendes Schicksal, funktioniert in dieser Kombination jedoch hauptsächlich als eine Art Prolog zu
Männer Helden und schwule Nazis.
In seinem Langfilm-Beitrag zu den Panorama Dokumenten, wo von Praunheim zuletzt 2003 mit
Tunten lügen nicht vertreten war, lernen wir in Interviews einige schwule Neonazis bzw. Ex-Neonazis kennen. Diese Menschen demonstrieren, dass sich dieser Widerspruch tatsächlich leben lässt. Einige der bekanntesten "Größen" der rechten Szene im Nachkriegsdeutschland waren bzw. sind schwul, wie z.B. der mittlerweile an AIDS verstorbene Michael Kühnen, der schwule Männer für die besseren Soldaten hielt, da sie keine Rücksicht auf eine Familie zu nehmen brauchten. Seine Homosexualität wird heute noch von vielen Mitgliedern rechter Parteien geleugnet.
Die zwei jungen schwulen Berliner Neonazis Andre und Alexander dagegen meinen, ihre jeweilige Parteiführung toleriere ihr Schwulsein. Überhaupt gäbe es ja nur selten Übergriffe von Neonazis auf Schwule, zumindest körperlich. Alexander gibt zwar zu, dass manche Wahlplakate nicht gerade Schwulenfreundlich sind, aber wenn die Parteiführung ihn aufgefordert hätte, beim Aufhängen mitzuhelfen, hätte er auch nicht nein gesagt.
Auch geschichtlich gibt es dem Thema einiges abzugewinnen; so gab es in Hitlers Führungsriege einige Schwule, allen voran SA-Führer Ernst Röhm, der 1934 als Teil des Machtkampfes zwischen Hitler und der SA getötet wurde. Diese Hintergründe werden anhand von Experten-Interviews und dokumentarischem Material in den Film eingebracht, wobei der Schnitt die Übergänge zum Teil sehr schön fließend gestaltet. Selbstverständlich darf auch der Abschnitt über die angebliche Homosexualität von Hitler selbst nicht fehlen, die von Praunheim eher als fixe Idee eines Historikers darstellt, der der Tradition treu bleibt, Homosexualität zu verteufeln.
Dass sich tatsächlich viele Schwule in rechten Gruppierungen finden, führt der Film, wenn überhaupt auf etwas, auf die nahe liegende Faszination mit Männerbünden, Uniformen und Hierarchie zurück. Gesellschaftlich-soziale Erklärungen, wie sie zur Zeit im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, bleiben völlig außen vor. Letztlich hält sich der Film an die Aussage von Prof. Rüdiger Lautmann, dass Schwule in allen Parteien und Gesellschaften verfolgt würden, und die Angst entdeckt zu werden, daher fast überall gleich sei. Gerade auch im Hinblick auf das Portrait von Walter Schwarze hätte man sich doch mehr gewünscht als das recht unbeschwerte Aneinanderhängen von mehr oder weniger relevanten Fakten, das Rosa von Praunheim hier abliefert.
Gender X (Julia Ostertag,
Panorama Dokumente)
D 2005, mit Daphne de Baakel, Gloria Viagra, Lena Braun, Nina Queer, Rebecca Poppers, Cherry Hollow, Sherry Vine, Paisley Dalton, Krylon Superstar, Chou Chou de Briquette und anderen, 72 Min.Gender X ist ein Interviewfilm, der die Berliner Transvestiten- und Transsexuellen-Szene ins Visier nimmt - ein Thema, dem sich Rosa von Praunheim u.a. vor zwei Jahren in
Tunten lügen nicht angenommen hatte. Auch wenn sich Julia Ostertags Stil von Praunheims doch sehr unterscheidet (sie tritt als Interviewerin ganz in den Hintergrund, wird als Regisseurin nur in der Montage sichtbar), gibt es hier nicht viel Neues zu hören. Selbstverständlich geht es um andere Menschen, d.h. es stehen andere Lebensentwürfe und Erfahrungsgeschichten im Mittelpunkt. Tatsächlich funktioniert der Film wohl am besten als eine Art Werbefilm für die Shows und Clubevents der vorgestellten Personen. Der Kern ist jedoch derselbe wie bei Praunheim: "wir sind, wer wir sind!" Traditionelle Geschlechterrollen sind für die portraitierten Personen einfach nicht mehr relevant, sie reichen nicht aus, um die dargebotene Vielfalt zu beschreiben. Jeder Mensch ist einzigartig, und ebenso jedes Geschlecht: die Beschreibungen reichen von "irgend etwas zwischen Mann und Frau" über "die Frau im Mann" bis hin zum "natürlichen Geschlecht Tunte".
Dass diese Form der Freiheit nur in einer großen Stadt wie Berlin möglich ist, kommt dabei wie von selbst zur Sprache; einige sind sogar der Meinung, Berlin eigne sich besonders gut für ihre Form der Selbstverwirklichung, im Vergleich zu anderen großen Städten in Europa oder den USA. Ein anderes Thema ist die unumgängliche Verbindung von Geschlecht, Sexualität und Politik. Neben einem kleinen geschichtlichen Exkurs in die politische Arbeit in den 80ern, wird z.B. das Transsexuellengesetz der BRD in Frage gestellt. Es wurde ursprünglich zum Schutz von Transsexuellen eingeführt, besagt aber z.B. auch, dass eine Person dauerhaft fortpflanzungsunfähig sein muss, um ihr Geschlecht offiziell verändern zu dürfen.
Angereichert werden die Interviews, die die Regisseurin, meist im Alleingang, im Laufe eines halben Jahres in Berliner Clubs aufgenommen hat, mit Zitaten, u.a. von Susan Sontag oder Andy Warhol. Ein schönes Beispiel ist "You are born naked. The rest is drag." (Ru Paul). Der Versuch, die dargelegten Einzelfälle auf diese Art und Weise in einen größeren künstlerischen und philosophischen Kontext einzuordnen gelingt jedoch nur bedingt; zu groß ist oft die Distanz zwischen Zitaten und Interviews. Es fehlt ein gesamtgesellschaftlicher Zusammenhang. Dennoch ist
Gender X ein ehrenwerter, wenn auch harmloser, Versuch, die Verwirrung der Geschlechter mehr in den Mittelpunkt der Wahrnehmung und der Diskussion zu stellen.
Coming soon in Cinemania 9 (Berlinale Fast Food):Rezensionen zu Berlinale-Filmen aus der neuen Welt (USA, Kanada):
The Ballad of Jack and Rose, Based on a true story, The Devil and Daniel Johnston, The Dying Gaul, Final Cut - The Making and Unmaking of Heaven’s Gate, The Love Crimes of Gillian Guess, On the Outs, Reine Chefsache, Thumbsucker, Die Tiefseetaucher