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April 2005 | Thomas Vorwerk für satt.org | |
Palindrome
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Wie schon in seinem besten Film Happiness klagt Solondz auch in Palindromes die verlogene Doppelmoral hinter der heiligsten aller US-amerikanischen Kühe, der Familie, an. Dabei bedient er sich wie schon in seinem in Deutschland leider nicht im Kino gelaufenen Storytelling einer experimentellen Erzählstruktur, die fast schon zum Selbstzweck wird, was man bei diesem Regisseur aber goutiert.
Der Name seiner Hauptfigur Aviva ist ein Palindrom, ein Wort also, das von hinten gelesen genauso aussieht. Ähnlich artifiziell wie dieser Name wirkt auch die Person dahinter, die im Film von nicht weniger als acht verschiedenen Schauspielern dargestellt wird. Bei jedem zweiten dieser Darsteller handelt es sich um ein 13- bis 14-jähriges Mädchen, das die 12-jährige Aviva spielt, aber die andere Hälfte ist keineswegs getypecastet, sondern besteht aus zwei Afroamerikanerinnen, davon eine sechsjährige, die andere erwachsen und extrem übergewichtig, einem zwölfjährigen Jungen und last but by no means least Jennifer Jason Leigh. In acht mit unterschiedlichen Namen versehenen Kapiteln übernimmt jeweils ein anderer Darsteller, erst im letzten Kapitel "Aviva" variiert die Besetzung teilweise von Einstellung zu Einstellung, wodurch die Abfolge der Schauspieler (wenn ich mich nicht irre) eine andere Art von Palindrom bildet.
Doch auch wenn dieser Manierismus die Empathie des Zuschauers stark einschränkt, ist auch die eigentliche (Leidens-)Geschichte von Aviva ebenso skurril und tragikomisch wie mitreißend. Avivas sexuelle Initiation mit dem dicklichen Judah, der in einem Zimmer voller Pin-Ups lebt ("Do you think about sex a lot?) hat für sie den einzigen Sinn, schwanger zu werden. Das junge Mädchen hat noch keinen entwickelten Sexualtrieb, erfährt duirch den misslungenen Beischlaf keine Befriedigung und empfindet für Judah keine Emotionen, er ist nur Mittel zum Zweck, ein williger Samenspender. Umso bedauerlicher, daß Avivas Mutter (Ellen Barkin), die seinerzeit selbst ungewollt früh schwanger wurde, Aviva zusammen mit ihrem Gatten (und kleinen "treats" wie Ben & Jerry-Eis oder Karten für ein N'Sync-Konzert) zum Abtreiben überredet. "It's not a baby, not yet. It's just … it's just a tumor." Es entspricht nur der tragischen Ironie des Autors Solondz, daß Aviva nach diesem Eingriff unfruchtbar bleibt und enttäuscht von Zuhause wegläuft. Ein besonders elliptisches Kapitel namens zeigt diese Flucht in einigen idyllischen Einstellungen, auf einem kleinen Boot auf dem Fluß sieht man den einzig männlichen Darsteller (den man wirklich nicht unbedingt als solchen erkennt), und wer nicht die Werke von Mark Twain kennt, wird sich wundern, warum dieses Kapitel "Huckleberry" heißt. Über solche kleinen Details wie die Männer mit den Mehrfachnamen könnte man ganze Seminararbeiten füllen …
Eines der Herzstücke des Film ist jedoch Avivas Zeit bei "Mama Sunshine", die mit einigen Ausreißern und behinderten Kindern zusammen eine religiöse Ersatzfamilie aufgebaut hat, in der Aviva beinahe Bestätigung findet. Wenn dieser bunter Haufen musiziert, singt und tanzt, ist es so, als würde die Besetzung von Todd Brownings Freaks für ein Casting der Backstreet Boys auftreten, nicht jedermann wird sich dieser teilweise fast schon kranke Humor erschließen, der den Zuschauer beispielsweise befreit auflachen lässt, wenn später ein unschuldiges kleines Mädchen erschossen wird.
Todd Solondz will provozieren, wie es auch andere Regisseure wie Larry Clark wollen. Doch im Gegensatz zum thematisch verwandten Ken Park funktioniert Palindromes auch jenseits der gewollten Provokation und beweist erneut das Ausnahmetalent des Autors und Regisseurs Solondz, der leider noch nicht die Beachtung eines Paul Thomas Anderson oder Joel Coen erfahren hat, obwohl er sie verdient.satt.org | Literatur | Comic | Film | Musik | Kunst | Gesellschaft | Freizeit | SUKULTUR |