Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




Juni 2005
Friederike Kapp
für satt.org

Der fallende Engel
Meleğin Düşüşü

Türkei/ Griechenland 2004

Der fallende Engel (Melegin Düsüsü) (R: Semih Kaplanoglu)

Regie:
Semih Kaplanoglu

Buch:
Semih Kaplanoglu, Leyla Ipekci, Aygar Asan

Kamera:
Eyüp Boz

Schnitt:
Ayhan Ergüsel, Semih Kaplanoglu, Suzan Hande Güneri

Darsteller:
Tülin Özen (Zeynep), Budak Akalin (Selcuk), Musa Karagöz (Müfit), Engin Dogan (Mustafa), Yesim Ceren Bozoglu (Funda), Özlem Turhal (Nilgün)

97 Minuten

Kinostart:
23. Juni 2005

Der fallende Engel
Meleğin Düşüşü

Zwei Geschichten werden erzählt, die nur an einem einzigen Scharnier zusammengefügt sind: Vom Zimmermädchen Zeynep (Tülin Özen), die ihren Vater (Musa Karagöz) erschlägt, um ihrer fortwährenden Schändung ein Ende zu setzen, und von dem depressiven Künstler Selçuk (Budak Akalin), der einen Koffer voller Kleider verschenkt, um vom Tode seiner Frau (Yesim Ceren Bozoglu) zu genesen. Die junge Frau holt den Koffer in Selçuks Wohnung ab.

Filmszene
Filmszene
Filmszene

Der Inhalt des Koffers wirkt katalytisch auf Zeynep. Er enthält Frauenkleider. Gegenstände, die offen Sinnlichkeit ausdrücken, das Frausein zum Thema haben. Kleidung ist etwas Gewähltes. Zeynep hat ihr Leben nicht gewählt, nicht die Schläge, nicht die Übergriffe. Nicht das fortwährende Untertanendasein unter den Vater. Die Kleidung, die sie wählt, versteckt ihre Weiblichkeit: derbes Schuhwerk, formlose Pullover. Nichts wird betont, alles verdeckt. Und doch findet der Inzest statt, der selbstverständlich ebenfalls versteckt wird. Nun sitzt Zeynep da, einen Damenschuh in der Hand. Nichts Extravagantes, kein eigentlich frivoles Modell, aber doch ein frauliches. Mit Absatz, Ausschnitt, einem braven Riemchen. Zeynep hält ihn behutsam. Die biederen Blusen handhabt sie mit großer Selbstverständlichkeit. Ein karmesinrotes Unterhemdchen wirft sie schnell in den Koffer zurück.

Später geht sie in ebendiesen hochhackigen Schuhen und dem rotseidenen Unterhemd durch die Wohnung, als der Vater unerwartet früh nach Hause kommt. Beide sind überrascht. Er gibt ihr eine Ohrfeige. Sie zieht sich sofort zurück, um sich wieder in ihre mehrlagige Neutralisierungsgarderobe zu hüllen. Wenig später ist der Vater tot. Zeynep hat beschlossen, ein eigenes Leben haben zu wollen.

Der Film nimmt Zeyneps bedrückte Stimmung auf. Viele Szenen spielen in halbdunklen Räumen. Die Zimmer sind Käfige mit Fenstern, durch die keiner blickt. Vielfach sind die jeweiligen Protagonisten im Gegenlicht zu sehen, das keine Binnenkonturierung erlaubt, Schattenrisse, wahre Schatten ihrer selbst. Die Handlung ist in den Herbst gelegt, trübes Wetter, trübes Licht, ständig Regen. Herbstlaub, sogar Schnee. Auch die hellen Farben sind nicht fröhlich: In einer frühen Szene steht Zeynep am Meer. Das ganze Bild besteht aus zwei Farben. Es herrscht Hochnebel, Meer und Himmel sind ununterscheidbar, ein gedämpftes Weiß. Im Vordergrund ein schwarzer Strich (die Uferpromenade), ein schwarzgraues Halbrund (ein Haufen Steine), ein menschlicher Umriß (Zeynep im Gegenlicht). Hier scheint die Welt zu Ende.

Die Tonspur hebt einzelne Szenen und Tätigkeiten heraus. Wenn Zeynep für Vaters Abendbrot mit dem Messer Kartoffeln schält, erfüllt ein lautes Schaben den ganzen Raum. Das Knistern einer Plastiktüte, die Zeynep aus dem Koffer nimmt, ist so laut, daß es fast "Krach" zu nennen ist. Eine besondere Stelle nehmen Atemgeräusche ein. Der Film beginnt mit dem stoßweisen Atemgeräusch der rennenden Zeynep, die in wachsender Verzweiflung vergeblich versucht, einen an einem Zaunpfosten befestigten Goldfaden über eine große Wegstrecke hinweg zu spannen. Viele Fäden sind um den Pfosten gewickelt, Zeynep folgt offensichtlich einem Brauch, einer Art Beschwörungs-Ritual. In einer nächtlichen Szene sitzt Zeyneps Vater auf ihrem Bett. Fast nichts ist zu sehen (dunkler Raum, Gegenlicht), nichts zu hören, außer dem tiefen Atem des Vaters. Das Geräusch stellt eine Beziehung her, zwischen Vater und Tochter, aber auch zwischen Vater und Zuschauer, dem so die unangenehme Nähe, der die Tochter ausgesetzt ist, auf einer sinnlich-symbolischen Ebene ebenfalls aufgezwungen wird.

Sehr wirkungsvoll also erzeugt der Film eine bleierne, düstere Stimmung, die bis zum Schluß durchgehalten wird. (Mit Ausnahme der Szene, in der Zeynep gemeinsam mit dem jungen Arbeitskollegen Mustafa (Engin Dogan), zu dem sie Vertrauen gefaßt hat, den in den geschenkten Koffer verstauten toten Vater im Meer versenkt. Aber das mag nicht jeder komisch finden.) Genau diese Leistung des Films ist auch sein einziges Manko: soviel traurige Anspannung ist mehr, als mancher Zuschauer hinnehmen will an einem Kinoabend. Insgesamt ein durchaus sehenswerter Film, ist Melegin Düsüsü eher kunstvoll als eingängig. Wer jedoch bis zum Ende durchhält und erträgt, wird belohnt: Kleider- und vaterlos tritt Zeynep auf den Balkon. Das Morgenlicht fällt auf ihren nackten Körper, ihre Haut ist rosig, die noch schlafende Stadt liegt ihr zu Füßen.