Filmreihe Gianni Amelio
Im Kino Arsenal
Berlin
4. bis 29. Juli 2005
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Italienischer Hoffnungsträger
Wer sich Anfang der Neunziger Jahre für das europäische Kino interessierte, der mochte vielleicht schon von Lars von Trier, Tom Tykwer oder Pedro Almodóvar gehört haben, die größten nicht-britischen Regie-Hoffnungen waren seinerzeit aber eher Krzystof Kieslowski, Aki Kaurismäki und Leos Carax, allenfalls noch der Belgier Jaco van Dormael (Toto le heros) oder der Italiener Gianni Amelio …
Der 1945 in Kalibrien geborene Amelio schaffte es, mit seinen drei wohl bekanntesten Filmen (1990: Porte aperte / Offene Türen, 1992: Il ladro di bambini / Gestohlene Kinder, 1994: Lamerica) nicht nur unzählige nationale Filmpreise, eine Oscar-Nominierung, einen "Goldenen Löwen" und den "Großen Preis der Jury" in Cannes abzugreifen, er wurde auch im steten Zwei-Jahres-Takt für diese drei aufeinanderfolgenden Filme jeweils mit dem europäischen Filmpreis für den besten Film ausgezeichnet, was ihm wohl so schnell niemand nachmachen wird.
Amelios nächster Film Cosi ridevano / So haben wir gelacht wurde erst 1998 fertiggestellt (und verhalten bis skeptisch aufgenommen) und dann dauerte es sogar sechs Jahre, bis sein neuestes Werk Le chiava di casa / Die Hausschlüssel in die Kinos kam, als deutschen Starttermin hat der Pandora-Verleih den "Frühherbst 2005" anvisisert.
Im Berliner Arsenal nimmt man eine Vorpremiere des neuen Film zum Ausgangspunkt einer kleinen Reihe mit Filmen Amelios, die sämtliche Spielfilme ab 1988 in umgekehrter Reihenfolge präsentiert (nur Colpire al cuore aus 1982 fehlt) und die Reihe schließlich mit dem Dokumentarfilm Bertolucci secondo il cinema (1975) abschließt.
Bertolucci secondo il cinema (Gianni Amelio)
Dt. Titel: Das Kino Bertoluccis, Italien 1975, Kamera: Renato Tafuri, Schnitt: Sergio Nuti, mit Bernardo Bertolucci, Sterling Hayden, Dominique Sanda, Robert De Niro, Vittorio Storaro, Gérard Depardieu, Burt Lancaster, Donald Sutherland, Alida Valli, Guiseppe Bertolucci, Stefania Sandrelli, 70 Min., Vorführungen: Mittwoch, 27. Juli, 19 Uhr & Freitag, 29. Juli, 21 Uhr
Bernardo Bertoluccis Novecento (1900) von 1976 erscheint aus heutiger Sicht wie ein europäisches missing link zwischen Coppolas The Godfather (1972) und Ciminos Heaven’s Gate (1980), zwei Eckpfeilern des New Hollywood. Auch ohne den in mancher Schnittversion über fünfstündigen Film zu kennen, kann man Gianni Amelios Dokumentarfilm von den Dreharbeiten geniessen. Bertolucci secondo il cinema, der schon im Titel den Spagat zwischen den Evangelien und Truffauts Interview-Buch Le cinéma selon Hitchcock schlägt, ist ein frühes Beispiel, wie ein Making-of funktionieren kann, wie eines der heutzutage routinemäßig hergestellten PR-Filmchen vielleicht sogar das eigentliche Werk zu überflügeln imstande ist. Im sommerlichen Waldstück tanzen einige Bauern, man hört lange Zeit nur die Musik, irgendwann schreitet Burt Lancaster durchs Bild und bleibt nachdenklich vor einem Reflektoren stehen, einer dieser kleinen Stellwände, die bei Filmarbeiten das Lichtbeeinflussen sollen. Amelio gelingt es gleichzeitig, die ländliche Atmosphäre von Novecento einzufangen, und dabei mal vor, mal neben und mal hinter der Kamera die Magie des Filmemachens nicht etwa bloßzustellen, sondern abermals in einem sehr filmischen und ästhetisierten Vorgang zu präsentieren. Ein Interview mit Sterling Hayden verdeutlicht, wie Amelio selbst bei der Ankunft bei den Dreharbeiten den von ihm verehrten Darsteller in seiner Maske als italienischem Bauern für einen Einheimischen gehalten hat. In Italien leben "peasants, simple people", Hayden kommt laut eigener Aussage "from another world - a world of fucked-up people". Während wir noch andächtig den Worten des Schauspielers lauschen, hören wir im Hintergrund einen Song aus Johnny Guitar - in einer italienischen Version? Gianni Amelio mag sich an die (sehr viel später im Film geäußerten) Worte Bertoluccis gehalten haben: Je geheimnisvoller, desto schöner sind die Dinge. Und so laben wir uns zwar am plötzlich wieder jungen Bob de Niro, Donald Sutherland oder Gérard Depardieu, noch magischer als die verblichenen Bilder aus einer anderen Zeit, als man eine noch weiter zurückliegende Zeit (Novecento spielt von 1900 bis 1945) wiedererschaffen wollte, sind aber die Spielereien des Dokumentarfilmers, der beispielsweise während einer Kamerafahrt hinter einer Leinwand verschwindet, auf der wir nur Schatten sehen. Und zwar nicht etwa Schatten der Filmfiguren, sondern die des Kamerawagens und des Mikrofon-Krans. Nach unzähligen Takes einer doch eher intimen Szene zwischen Dominique Sanda und "Bobbe" de Niro zieht sich die Dokumentarkamera abermals zurück. Nicht nur sind wir erstaunt, wie viel Filmteam um zwei Menschen in einer kleinen Kammer drapiert werden kann, plötzlich sind wir hinter den Kulissen, sehen, wie vor einem Fenster, daß wir im Raum nie sahen, Statisten auf ihre Einsätze warten, um im heftig fallenden Kunstschnee für Sekundenbruchteile mal durchs Bild zu huschen. Traumwandlerisch lässt sich die Kamera der Dokumentaristen hingegen Zeit und betrachtet wie das Auge Gottes aus der Höhe die Bauten und den Schneeriesler, während irgendwo weit unten hinter einem Holzverschlag Robert De Niro an einem Tisch sitzt und uns plötzlich nicht mehr interessiert. Immer wieder sehen wir einen Zyklopen mit einem Motivsucher vorm Auge durch die Gegend wandeln, bei komplizierten Kamerafahrten steht ihm zur Seite ein menschlicher Blindenhund, der dafür sorgt, daß er nicht gegen einen Pfeiler rennt oder rückwärts auch die Türe findet, die sich schließlich vor der Kamera schließt. Bertolucci selbst führt auch mal die Kamera ("Diese Szene habe ich nur für Gianni Amelio gedreht") und lässt es sich auch nicht nehmen, seine eigene Zyklopen-Anekdote von vor zwanzig Jahren zu erzählen, als er wegen eines Augenleidens auch mal für vier Tage eine Augenklappe trug und wie Raoul Walsh, John Ford oder Fritz Lang ausgesehen haben muss. In einem der (wenigen) Interviews mit Bertolucci diskutiert dieser mit Amelio zusammen das Ende seines Films, aber auch das Ende von Bertolucci il secondo cinema wird während des Films besprochen. Und während der letzten Einstellung verschwimmen dann abermals die Grenzen zwischen Dokumentation und Inszenierung, doch selbst ich als Purist habe daran nichts mehr auszusetzen und schließe mich Bertoluccis Fazit an: "Geniale! Bellissima!"
Wenn man mehrere Amelio-Filme hintereinander schaut (wie bei den Pressevorführungen), offenbaren sich auch Querverweise und Verbindungen. Bertoluccis "pronti, pronti" findet sich wieder in den militärisch-deutschen Anweisungen einer Krankengymnastin in Le chiava di casa, beim Gespräch über ein Zitat von Renoir wird bereits jene "offene Tür" erwähnt, die (in der Mehrzahl) den Titel Porte aperte ausmacht, wo man auch Teile der Konfrontation zwischen einfachen Leuten und Höhergestellten aus Novecento entdecken kann …
Le chiavi di casa (Gianni Amelio)
Dt. Titel: Die Hausschlüssel, Italien / Frankreich / Deutschland 2004, Buch: Gianni Amelio, Sandro Petraglia, Stefano Rulli, Kamera: Luca Bigazzi, Schnitt: Simona Paggi, Musik: Franco Piersanti, mit Kim Rossi Stuart (Gianni), Andrea Rossi (Paolo), Charlotte Rampling (Nicole), Alla Faerovich (Nadine), Pierfrancesco Favino (Alberto), 105 Min., Kinostart: Frühherbst 2005, Vorführungen am Montag, den 4. Juli, 21 Uhr (voraussichtlich in Anwesenheit von Kim Rossi Stuart) und am Donnerstag, den 7. Juli, 19 Uhr.
Nach einem kurzen Gespräch mit Alberto, dem Ziehvater des Jungen, trifft Gianni nach 15 Jahren zum ersten Mal auf seinen Sohn, den halbseitig gelähmten und auch geistig behinderten Paolo. Der Film macht dieses Treffen für den Zuschauer noch geheimnisvoller als für Gianni, der immerhin zuvor ein Foto sah, und erst im Verlauf der Geschichte erfahren wir, warum Gianni (der nicht zufällig den Vornamen des Regisseurs trägt) seinem Sohn nach der Geburt den Rücken kehrte: Der Tod der Mutter (Livia) spielte neben der Behinderung eine große Rolle, Gianni wandte sich ab, und erst 15 Jahre später, als Paolo mal wieder zu einer Spezialbehandlung in die Berliner Charité muss, trifft er seinen leiblichen Vater in einem Nachtzug, ein für ihn völlig Fremder, der sich in den nächsten Tagen um ihn kümmern soll. Giannis Erscheinungsbild erinnert uns an die Rolle von Tom Cruise in Rain Man: ein gutaussehender, leicht unrasierter Yuppie, der statt des behinderten Bruders mit einem behinderten Sohn konfrontiert wird. Doch es geht nicht um eine 180-Grad-Wandlung eines Karriere-Typen zum Familienvater, den Gianni hat inzwischen mit einer anderen Frau ein neues Kind, und will nun erkunden, ob er sich traut, seinen alten Fehler wieder gutzumachen. Mit leisem Humor erzählt der Film von der Annäherung der beiden, was mit einer körperlichen Nähe zusammenhängt, die klar die italienischen Verhältnisse einer Familienführung spiegelt, was natürlich gerade in einem Fall von Behinderung für das Kind sicher besser ist. In Berlin lernt Gianni Nicole (Charlotte Rampling) kennen, die ebenfalls mit ihrer behinderten Tochter Nadine zur Behandlung hier ist. Eine kleine Rolle für die Rampling, die dennoch in wenigen Einstellungen klarmacht, wie die Liebe zu einem behinderten Kind das Leben verändern kann - und das sicher nicht immer zum Besten. Doch die neue Bindung zwischen Gianni und Paolo ist stark. Nach und nach akzeptiert Paolo Gianni als Vater, auch wenn er sich oft als eigensinnig erweist und etwa mit einem unangekündigten Tagesausflug in Berlin ein ungutes Licht auf die Erfüllung von Giannis Aufsichtspflicht wirft. Doch für seine Verhältnisse ist Paolo schon recht eigenständig, wie andere Kinder in diesem Alter hat er von seinen Zieheltern bereits die titelgebenden Hausschlüssel ausgehändigt bekommen, um zumindest die Illusion zu erhalten, selbst darüber entscheiden zu dürfen, wann er das Haus verlässt und zurück kommt. Soviel Freiheit ist Gianni noch nicht geheuer, er versucht alles richtig zu machen, muß aber feststellen, daß zuviele Freiheiten und zuviel Zuneigung auch manchmal verkehrt sein kann. Amelios neuer Film erzählt gefühlsbetont eine Geschichte zwischen Vater und Sohn, der man auch verzeiht, daß einiges ein bißchen zu positiv dargestellt wird. Paolo ist trotz seiner Behinderung ein Kind zum Verlieben, sein Vater zeigt fast durchweg mehr Verständnis, als man es selbst von seinen Eltern gewohnt ist, und wenn die beiden schließlich Hals über Kopf nach Norwegen aufbrechen, um Paolos gutaussehende Brieffreundin Kristine zu besuchen, so wird der Realismus fast völlig hinter ihnen gelassen. Doch das entspricht nur der italienischen Tradition des Neorealismus, wer sich im Kino beschwert, daß es nicht so frustrierend ist wie das richtige Leben, hat irgendetwas nicht verstanden. Immerhin vergrätzt uns der Film nicht mit einem aufgesetzten unglaubhaften Happy End, sondern bleibt am Schluß so offen, daß jeder Zuschauer einigermaßen zufrieden sein sollte.
Die kompletten Termine der Reihe (jeweils im Arsenal 1):
- Montag, 4. Juli 2005, 21 Uhr und Donnerstag, 7. Juli 2005, 19 Uhr:
Le Chiavi di Casa / Die Hausschlüssel OmU
- Dienstag, 5. Juli 2005, 19 Uhr und Samstag, 9. Juli 2005, 21 Uhr:
Cosi Ridevano / So haben wir gelacht OmE
- Montag, 11. Juli 2005, 19 Uhr und Mittwoch, 13. Juli 2005, 21 Uhr:
Lamerica OmE
- Freitag, 15. Juli 2005, 19 Uhr und Sonntag, 17. Juli 2005, 21 Uhr:
Il Ladro di Bambini / Gestohlene Kinder OmE
- Dienstag, 19. Juli 2005, 19 Uhr und Donnerstag, 21. Juli 2005, 21 Uhr:
Porte Aperte / Offene Türen OmE
- Samstag, 23. Juli 2005, 19 Uhr und Montag, 25. Juli 2005, 21 Uhr:
I Ragazzi di Via Panisperna / Die Jungen aus der Via Panisperna OmE
- Mittwoch, 27. Juli 2005, 19 Uhr und Freitag, 29. Juli 2005, 21 Uhr:
Bertolucci secondo il Cinema OmU
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