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Mai 2007
Thomas Vorwerk
für satt.org


Joe Strummer
The Future is Unwritten
(R: Julien Temple)

UK / Irland 2007, Kamera: Ben Cole, Schnitt: Nick Howie, Mark Reynolds, Tobias Zaldua, Animation: Tim Standard, Music Supervisor: Ian Neil, mit Joe Strummer, Mick Jones, Steve Jones, Don Letts, Bernie Rhodes, Terry Chimes, Dick Evans, Alasdair Gillis, Ian Gillis, Bono, Bobby Gillespie, Roland Gift, Anthony Kiedis, Flea, Courtney Love, Jim Jarmusch, Martin Scorsese, Steve Buscemi, Johnny Depp, Matt Dillon, John Cusack, 124 Min., Kinostart: 24. Mai 2007

Joe Strummer – The Future is Unwritten (R: Julien Temple)
Joe Strummer – The Future is Unwritten (R: Julien Temple)
Fotos © Neue Visionen
Joe Strummer – The Future is Unwritten (R: Julien Temple)
Joe Strummer – The Future is Unwritten (R: Julien Temple)
Joe Strummer – The Future is Unwritten (R: Julien Temple)

Julien Temple dürfte vielen durch das 80er-Musical Absolute Beginners und vielleicht das eine oder andere Musicvideo aus jener Zeit (Come on Eileen, Do you really want to hurt me, Jump, Rockin’ in the Free World, See You, Smooth Operator, When I think of you etc.) bekannt sein, von ihm stammt aber auch The Great Rock’n’Roll Swindle, eine eigentümliche Mischung aus Doku und Fiktion, die das Phänomen der Sex Pistols als große Abzocke des Produzenten Malcolm McLaren darstellt. Und nachdem er vor einigen Jahren einen weiteren, eher straighten Dokumentarfilm (The Filth and the Fury) über die Pistols inszenierte, war er für eine Dokumentation des vor fünf Jahren verstorbenen The Clash-Sängers Joe Strummer wahrscheinlich sowas wie die erste Wahl.

Das interessanteste an diesem Film ist, daß er sich bei weitem nicht nur auf die Clash-Zeit begrenzt (etwa das mittlere Drittel des Films), sondern er auch die Kindheit und die ersten musikalischen Gehversuche schildert, die Beziehung zum Bruder (und dessen bedeutsamen Tod) beleuchtet, und über Archivaufnahmen und Filmausschnitte aus Lindsay Andersons If … und den zwei Orwell-Verfilmungen 1984 (die erste, in Schwarzweiß) und Animal Farm das ganze auch in ein historisches, gesellschaftliches und politisches Gesamtbild einfügt. Zunächst wunderte ich mich zwar über die Filmausschnitte (die beispielsweise eingefügt wurden, um zu illustrieren, daß der spätere Joe Strummer als Kind ein Internat besucht), doch im Nachhinein machten sie immer mehr Sinn. So dachte ich zunächst, daß die Band, die aus den fluktuierenden Bewohnern eines besetzten Hauses besteht, einfach nach der Hausnummer “The 101’ers” benannt wurde, doch spätestens, wenn man über einen Filmausschnitt daran erinnert wird, daß Zimmer 101 ja in 1984 eine wichtige Rolle spielt, zieht man wieder Querverbindungen, die die politisch durchdachten Texte Strummers ebenso hervorstellen wie sie auch die Methode des Regisseurs als umso durchdachter erscheinen lassen. Neben der streng chronologischen Geschichte der Titelfigur wird der Film auch noch durch Interviews mit engen Freunden und bekannten Zeitgenossen durchzogen, bei denen man sich auch zunächst fragt, warum, sie jeweils an Lagerfeuern aufgenommen wurden. Doch offensichtlich nahm Temple eine Initiative des späten Strummers auf, und verband Lagerfeuer-Jam-Sessions mit Interviews der dazu an verschiedenen Orten der Welt eingeladenen. Wodurch der Geist Strummers nicht nur durch dargebotene Cover-Versionen seiner bekannten Hits weiterlebt.

Das zweite Element, das die Chronologie des Films durchbricht, sind Audioaufnahmen einer von Strummer moderierten Radiosendung (natürlich London Calling genannt), deren Musikauswahl schon früh den allumfassenden Musikgeschmack Strummers, der sich vor allem in seiner Post-Clash-Zeit zeigt, sozusagen vorwegnehmen. Natürlich sieht man auch schon in seiner Frühzeit, wie ihn Woody Guthrie, Elvis Presley, die Rolling Stones und natürlich die Sex Pistols beeinflusst haben, aber erst nach dem einfühlsam präsentierten Niedergang von The Clash kommen die mannigfaltigen Facetten Strummers, der unter anderem auch Soundtracks (Straight to Hell, Walker) komponierte und selbst bei einigen Filmen (Mystery Train) mitspielte. Und der Film zeigt auch die umstritteneren Seiten Strummers: Daß er Musiker aufgrund ihres interessant klingenden Namens oder eines Auftritts als Flitzer beim Elastica-Konzert auswählte, und mitunter etwas hinterhältig sein konnte …

Manche inszenatorische Entscheidungen Temples überzeugten mich nicht völlig, so wurden etwa Fotos und Zeichnungen über eine Wackelkamera bzw. animierte Details “zum Leben erweckt”, was zwar das Publikum bei Laune hält, aber die Dokumente teilweise verfälscht. So hätte ich Strummers letzte Weihnachtspostkarte gern ohne CGI-Lagerfeuer gesehen, denn über Zeichnungen und Gemälde kann ich persönlich mir ein besseres Bild von den Fähigkeiten einer kreativen Person machen als über Musik, die selbst bei nur zwei simplen Akkorden längst über meinen intellektuellen Horizont geht und (glücklicherweise) nur rein intuitiv erfasst wird.

Trotz dieser rein persönlichen und etwas puristischen Einwände ist Joe Strummer - The Future is Unwritten klar der bisher beste (und spannendste und informativste) Dokumentarfilm, den ich dieses Jahr sah. Da können weder Wahlkampf in Japan, Pubertät in Kreuzberg oder Musiker-Kollege Scott Walker mithalten.