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24. September 2008
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Day Night Day Night (R: Julia Loktev)
Day Night Day Night (R: Julia Loktev)
Day Night Day Night (R: Julia Loktev)
Fotos: Peripher Film
Day Night Day Night (R: Julia Loktev)
Day Night Day Night (R: Julia Loktev)
Day Night Day Night (R: Julia Loktev)

Day Night Day Night
(R: Julia Loktev)

USA / Deutschland 2006, Buch: Julia Loktev, Kamera: Benoit Debie, Schnitt: Michael Taylor, Julia Loktev, Kostüme: Rabiah Troncelliti, mit Luisa Williams (Sie), Josh P. Weinstein (Kommandant), Gareth Saxe (Organisator), Nyambi Nyambi (Organisator), Frank Dattolo (Bombenhersteller), Annemarie Lawless (Assistentin), Tschi-hun Kim (Fahrer), Richard Morant (Flirt), Jennifer Camilo, Rosemary Apolinaris, Jennifer Restrepo, Julissa Perez (Mädchen im Waschraum), 90 Min., Kinostart: 25. September 2008

Mal wieder so ein Film, von dem ich beim Betreten des Kinos weniger als nichts wusste. Ich dachte sogar, es handle sich um ein Werk aus Japan oder Korea, wie ich auf diese Schnapsidee kam, kann ich nicht mehr rekonstruieren. Auf jeden Fall erinnerte mich die erste halbe Stunde des Films ein wenig an Paul Austers Travels in the Scriptorium, in dem ein älterer Mann in einem Hotelzimmer sitzt, und ziemlich wenig von seinem Umfeld und seiner Situation weiß. In Day Night Day Night geht es um eine junge Frau, die gleich zu Beginn von einem Fahrer am Flughafen abgeholt wird, in ein Hotelzimmer gebracht wird, und dort zunächst die Anweisung bekommt, dieses nicht zu verlassen (bei Auster geht es lange darum, ob das Hotelzimmer eigentlich verschlossen ist oder nicht). Die Grundsituation des Zuschauers (nicht der jungen Frau) entspricht ziemlich genau der des Mannes bei Auster, wenn der Zuschauer nicht (und dazu kommen wir gleich) schon vor Besuch des Kinos eine kurze Inhaltsangabe des Films erfahren hat.

Doch noch ein Detail zu meinem Auster-Vergleich und meiner persönlichen Filmerfahrung (denn ich denke, die allermeisten Zuschauer werden beim Betreten des Kinos mehr als ich wissen). Im Hotelzimmer hängt ein gerahmter Kunstdruck eines Fotos, den die meisten Zuschauer kaum beachten werden. Darauf sieht man von hinten eine Frau, die auf einem Stuhl sitzt und in Richtung einer Türöffnung blickt. Dieses Bild hat meine komplette Auster-Querverbindung ziemlich ins Rotieren gebracht.

Doch der Film hat nichts mit Paul Auster zu tun. Die junge Frau (Luisa Williams), deren Namen man nicht erfährt, und die man auch nicht ohne weiteres in irgendeine ethnische Schublade einsortieren kann, hat sich offensichtlich entschlossen, am New Yorker Times Square als Selbstmordattentäter eine Bombe zur Explosion zu bringen. Über ihren Hintergrund erfährt man wenig, über ihre Motivation so gut wie nichts. Aber man bekommt ziemlich schnell heraus, dass sie es ernstmeint. In leisen, ganz privaten Selbstgesprächen gibt sie kund, dass sie ihr Leben für ein Wesen opfern will, hinter dem man eine göttliche / religiöse Instanz vermutet, doch selbst das ist schon mehr Interpretation, die allerdings durch die Vergleiche der Regisseurin ihrer Geschichte mit den Johanna von Orléans-Filmen von Carl Theodor Dreyer und Robert Bresson angekurbelt werden.

Auch die größtenteils vermummten Männer, die die Frau in den im Filmtitel angedeuteten zwei Tagen und Nächten auf ihre Tat vorbereiten, bleiben anonym und keiner erkennbaren Terrororganisation zuordbar. Keine bestimmten Akzente, keine Turbane, einer hat etwas dunklere Hautfarbe und der Fahrer (der nicht vermummt fährt) wirkt asiatisch, aber für den filmischen Versuchsaufbau (und hier gibt es vielleicht doch eine gewisse Nähe zu den eher klinischen Büchern Austers) ist es sogar noch interessanter, dass man über das Ziel des Anschlags hinaus keine gängigen politischen oder religiösen Motivationen in den Film hineininterpretieren kann.

Und so konzentriert sich das Auge des Betrachters ganz auf das Einzelschicksal der jungen Frau, auf ihr Zurückfallen in kindliche Verhaltensmuster, auf ihren immensen Hunger und die Auswahl der Speisen, die an eine Henkersmahlzeit gemahnen, auf ihre Entschlossenheit und die kleinen Momente des Zweifelns, aber auch auf die Kommunikation mit ihren Helfern, die gleichzeitig wie ihre Henker erscheinen. Einer der Helfer erklärt ihr, dass sie von der Explosion nicht mehr spüren werde als einen kleinen Nadelstich, den er auch großzügig zum Vergleich demonstriert. Ein anderer Helfer schärft ihr ein, dass sie im Falle eines polizeilichen oder ähnlichen Übergriffs den Plan zu Ende durchführen soll, selbst wenn in diesem Moment keine Opfer in der Nähe sein sollten. An dieser Stelle hakt sie ein, will die Gründe für ein solches Vorgehen erfahren, bei dem ihr Freitod nur für die selbst Konsequenzen hätte.

Mit geringem Budget bei den Hotelzimmer-Szenen und einigen eher ohne Drehgenehmigung am Times Square, im Auto oder am Flughafen realisierten Szenen, entwickelt der Film trotz geringer Handlungsdichte eine immense Atmosphäre, besticht durch ungewöhnliche Kadrierungen, gezielten Kameraeinsatz (Unschärfen im Hintergrund der Flughafenszene vergleichbar mit van Sant oder den Dardenne-Brüdern) und eine präzise Schauspielerführung (selbst von man von vielen der Schauspielern nie das Gesicht zu sehen bekommt). Bereits 2006 wurde Day Night Day Night innerhalb der Reihe Quinzaine des Réalisateurs in Cannes prämiert, und erneut muss man dem kleinen Verleih Peripher dafür danken, dass der Film überhaupt den Weg in die Kinos geschafft hat. Als Co-Produktion von Arte und dem “Kleinen Fernsehspiel” des ZDF wird der Film sicher auch bald irgendwo in der Glotze laufen, aber das ist längst nicht dasselbe, denn bei der intensiveren Betrachtung im Kinosaal gewinnt der Film um einiges gegenüber der TV-Ausstrahlung, womöglich noch an einem Wochentag nach 23 Uhr. Ab ins Kino!